Übrigens …

Sankt Falstaff im Bonn/Oberhausen

No Kings

Er kommt. Von unten kommt er. Der Stallgeruch der niedern Schicht hat ihn verlassen niemals nicht.“ Gleich der erste Satz, eindringlich gesprochen zum Auftakt sowohl der Bonner als auch der Oberhausener Inszenierung des Stücks von Ewald Palmetshofer, das innerhalb von einer Woche in beiden Städten zur Premiere kam, definiert die Tragik der Titelfigur und setzt eines der Haupt-Themen der jeweils mehr als dreistündigen Aufführungen. In Oberhausen klettert Jens Schnarre aus dem Unterboden der Bühne; in Bonn, wo Tillmann Köhler den Text als „Theater im Theater“ inszeniert, sucht sich Sören Wunderlich einen silbernen Fatsuit aus einem Kleiderhaufen, der an eine Sammelstelle für Obdachlosen-Klamotten erinnert. Wir werden den Aufstieg und Fall eines guten, im politischen Sinne vielleicht etwas naiven Menschen erleben - und die schmutzigen Intrigen der Macht, denen sich selbst jene nicht entziehen können, die vor dieser Macht eigentlich fliehen wollten. Wie Harri zum Beispiel.

Palmetshofers neues Stück ist eine Überschreibung von William Shakespeares Drama König Heinrich IV.. Besser trifft es vielleicht eine Formulierung des Autors selbst: Er habe sich einige Figuren aus dem Shakespeare-Stück „ausgeliehen“. Durch die Verschiebung der Shakespeare-Motive in die Gegenwart verändern sich die Beziehungen der Personen untereinander; ihre Charakterzüge werden teils verändert, teils abgeschwächt oder verstärkt. Noch haben wir in den westlichen Demokratien „no kings“ - allenfalls konstitutionelle Monarchien, die sich demokratischen Regeln unterworfen haben. Und so ist auch Palmetshofers Heinrich, vom Volk leutselig Heinz gerufen, nur ein demokratisch gewählter „Quasi-König“. Doch der hat das Land bereits radikal umgebaut. Die Demokratie steht still, Populismus und Autokratie sind die Zukunft. Von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit kann keine Rede mehr sein. Im Gegenteil: Die Redefreiheit ist gefährdet. „Um Fortschritt geht's schon lang' nicht mehr ... Man schreitet aus", heißt es bei Palmetshofer. So gesehen ist Sankt Falstaff ein Drama zur „No Kings“-Bewegung. Und ein Appell an uns alle, uns den Versuchen zur Aushöhlung oder gar Abschaffung der Demokratie entgegenzustellen: Denn: „Der Autokrat, er wurd' gemacht von einer Minderheit ... Die Mehrheit war anderweitig beschäftigt.":

Anhand der - wie sich herausstellen wird, äußerst labilen - Freundschaft zwischen dem hochwohlgeborenen Harri und dem lasterhaft-lebenslustigen, aber moralisch integren Falstaff erleben wir, wie ein schwacher Staat ins Autokratische kippt, wenn seine demokratisch gewählten Politiker sich wie absolutistische Monarchen aufführen und die demokratische Mehrheit sie auf dem Königsweg nicht stoppt. Ob Falstaff und Harri in seiner Ur-Form (d. h. als sich den Mächtigen entziehender exzessiver Kneipengänger) als Hoffnungsträger für diesen Staat fungieren könnten, sei dahingestellt. Wir erinnern uns: Falstaff, das war bei Shakespeare ein wohlbeleibter, clownesker, spitzbübischer und auf halbwegs charmante Weise lügnerischer Ritter, der vor allem dem Alkohol und anderen kulinarischen Genüssen zugetan war. Bei Palmetshofer ist die Figur kaum noch als Lügenbold, Possenreißer und Komödiant wahrzunehmen. Palmetshofer hat ihn rechtschaffen antikapitalistisch angelegt als einen durchaus politischen Kopf, der Reden gegen Heinrichs Regierungsstil schwingt und Machtspiele ablehnt. Er ist auf der Suche nach Liebe und Anerkennung in einer Welt ohne Klassenschranken. So wird er denn ein wenig ironisch zum „Heiligen Falstaff“.

Die Liebe glaubt er bei Heinrichs Sohn Harri gefunden zu haben. Die zwei scheinen ein Herz und eine Seele, nachdem Falstaff Harri auf dem Klo von Frau Flotts Bierschwemme aus dem Alkohol-Koma rettete. Frau Flotts Bar ist ein Safe Space, in dem Heinrichs Sohn Harri und sein Freund Falstaff sagen, tun und lassen können, was sie wollen. Doch als Heinrich alt und krank wird und der Staat an Stabilität verliert, gilt es, für den längst zum Autokraten gewordenen Heinrich einen Nachfolger zu bestimmen. Und siehe da: Der eigentlich recht unpolitisch wirkende Harri bekommt ein unmoralisches Angebot vom Papa. Das mit dem Safe Space bei Frau Flott erweist sich als trügerische Sicherheit: Von Harri taucht allerhand kompromittierendes Material auf - auf dem Klo gab es nicht nur Mund-zu-Mund-Beatmung im Koma. Ohne Wissen des jeweiligen Konkurrenten verhandeln Heinrich und seine Berater parallel zu Harri mit dem etwas dumpfbackigen Kraftprotz Hitzkopf, dem es mehrfach gelungen ist, die Feinde von Heinrichs Regime blutig niederzumetzeln. Die Freundschaft von Harri und Falstaff zerbricht; Hitzkopf und Harri werden zu Konkurrenten - und das Ende ist fatal.

Palmetshofer hält dazu noch Figuren wie „Das Mundwerk“ und „Das Hirn“ bereit, um die Angelegenheit noch ein wenig zu verkomplizieren, aber auch zu verfeinern. Das mit der Verfeinerung gelingt allerdings weder Tillmann Köhler am Schauspiel Bonn noch Niko Eleftheriadis am Theater Oberhausen so recht. Palmetshofers Text ließe sich als sprachliches Kleinod inszenieren. Wie der Autor seine Figuren zwischen der für Palmetshofer typischen Kunstsprache mit ihren eigenwilligen Inversionen, Alltagsdeutsch und sich ironisch an allen möglichen Shakespeare-Übersetzungen orientierender Retro-Hochsprache wechseln lässt, ist brillant. Nur muss man diese Sprache auch zum Klingen bringen. Palmetshofer will nach eigenen Worten den hierarchischen (Klassen-)Unterschied zwischen der Welt Heinrichs und der Kneipenwelt aufheben, wie Shakespeare ihn zwischen dem Hofe Heinrichs IV. und Mrs. Quickleys „Boar’s Head Tavern“ beschreibt. Doch sowohl in Oberhausen als auch in Bonn hat mit der Pseudo-Demokratisierung der Oberschicht offenbar der Stil der Spelunke die Oberhand gewonnen. Beide Inszenierungen zeichnen sich vor allem vor der Pause durch Lautstärke und wenig differenziertes Spiel aus. Dennoch vermögen sich - teilweise erst nach der Pause - einige interessante Charaktere aus den Aufführungen herauszukristallisieren.

Paul Michael Stiehlers Harri ist in Köhlers Inszenierung am Schauspiel Bonn ein netter Kerl, wenn auch ein wenig zu sehr dem Suff hingegeben. Aber was will man auch sonst machen angesichts eines so kalten, distanzierten Vaters wie dem Heinrich von Wilhelm Eilers? Als Harri vorübergehend die Macht in Händen hält, vermag Stiehler die Entwicklung vom guten Kneipen-Kumpel zum seine eigenen Werte und seinen besten Freund skrupellos verratenden Thronfolger glaubhaft zu verkörpern. Er agiert eleganter, feingliedriger als sein Kumpel, der „von unten kommt", wie es gleich in der ersten Szene naserümpfend heißt. Andererseits wird er Falstaff unnötig demütigen. Sein Verhalten lässt sich psychologisch erklären. Als eher weicher, labiler Mensch ist er nicht nur den Versuchungen der Macht nicht gewachsen: Möglicherweise benötigt er die Arroganz der Macht zur Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens und zur Festigung seines halb erzwungenen Persönlichkeitswandels. Jedenfalls blickt Palmetshofer mit dieser Figur höchst pessimistisch auf die Chancen zur Überwindung der Klassengesellschaft.

Sören Wunderlich, eigentlich eher lang und dünn, ist eine überraschende Besetzung für den feisten, rundlichen Falstaff. Aber Regisseur Köhler deutet ja immer mal wieder an, dass er „Theater auf dem Theater“ spielen lässt; Wunderlichs Fatsuit ist nur ein Beispiel. Wunderlich gibt den Titelhelden in Bonn als ehrliche Haut, die auf echte Freundschaft setzt, aber auch als etwas einfacheres Gemüt. Er spielt die Figur kraftvoll und charismatisch, aber nicht mit der Flexibilität des Oberschichtlers. Da der Schauspieler stets die gleiche forcierte Tonlage anschlägt, bringt er die weiche Seite seines Charakters wenig zur Geltung, und seine Figur bleibt eindimensional.

In Oberhausen gelingt insbesondere nach der Pause dem Falstaff-Darsteller Jens Schnarre eine überzeugende Differenzierung seiner Figur. Die Verzweiflung und Verlassenheit des von seinem royalen Freund fallen gelassenen Menschen aus der Unterschicht teilt sich bis in die Zuschauerränge auch emotional mit. Schnarre ist auch für den eindrücklichen, die Trauer über den Verlust seiner eigenen Utopie und über den Niedergang der Freiheit transportierenden Schluss der Inszenierung verantwortlich, der anders ausfällt als in Bonn. Philipp Quest gibt eine zynischere Variante des Harri als Stiehler in Bonn, ist dafür allerdings in der ersten Hälfte der Inszenierung weniger auffällig. Auch Daniel Rothaug als unsympathischer, rauer, kaum geschliffener Hitzkopf gefällt.

Während die Bonner Inszenierung sich in einem quietschgelben Bretterkasten auf der großen Bühne der Kammerspiele Bad Godesberg selbst Grenzen setzt, muss das Theater Oberhausen in der gesamten Spielzeit Einschränkungen hinnehmen, weil der Zuschauerraum im Haupthaus renovierungsbedingt geschlossen ist. Heike Mondschein platziert das Publikum in Dreierreihen rund um die Spielfläche. Vom Schnürboden wird gelegentlich ein variabler Kubus aus verschiedenfarbigen durchsichtigen Tüchern heruntergelassen, innerhalb dessen manche Innenraum-Szenen spielen, die (oftmals aus der Vogelperspektive) auf große Bildschirme übertragen werden. So entstehen reizvolle Bilder - manchmal reizen sie auch zum Schmunzeln, wenn z. B. die verwinkelte Toilettenanlage von Frau Flotts Container-Bar mit all ihren Kabinetts von oben sichtbar wird. Die Toilettenanlage scheint die Phantasie von Regisseur Eleftheriadis allerdings allzu sehr entzündet zu haben. Mindestens viermal lässt er Darstellerinnen und Darsteller auf offener Bühne in den Gully pinkeln - ein Gag, der schnell zum Ärgernis wird.

Auch die sexualisierte und fäkalisierte Sprache des Texts stellt die Inszenierung stärker aus als ihr Bonner Zwilling. Hierfür gibt es immerhin eine Begründung: Während in Bonn die queere Komponente des Texts nur zart angedeutet wird, rückt Eleftheriadis die homoerotischen und queeren Neigungen der Personen (nicht nur Harris und Falstaffs) von Beginn an durch Choreografie, Kostüm und Spiel ins Rampenlicht. Entfernt scheinen einige Bilder gar beeinflusst von Pinar Karabuluts grandioser, während der Covid-Pandemie mit dem Schauspiel Köln erarbeiteten filmischen Umsetzung von Palmetshofers „Edward III. - Die Liebe bin ich". Durch die starke Betonung der queeren Komponente rückt der Widerspruch zwischen dem Liebesbedürfnis Falstaffs, dem weichen Kern Harris und den überwunden geglaubten Männlichkeitsritualen des politischen Personals in den Fokus. Gedanklich ist das überzeugend. Die Saufbolde und Wildpinkler möchten wir allerdings, ehrlich gesagt, genauso wenig an der Spitze unseres Staates haben wie die Quasi-Könige, die sich in den USA, der Türkei oder in Ungarn derzeit an der Macht laben.