Parabel einer pervertierten Kindheit
Die Bühne - umrahmt von Lichtröhren - füllt ein dichtes metallenes Gestänge, das zwischendurch in reflektierendem Licht rot aufstrahlt, teilweise oder ganz nach oben verschwindet, auch mal als Geläut fungiert oder als Gitter Räume einzäunt. Im letzten, ergreifenden Bild assoziiert dann das schwankende Gestänge in fahlem Widerschein des Lichtes den verminten Eisernen Vorhang nach dem zweiten Weltkrieg. Ein grandioses Bühnenbild von Florian Lösche, das gleichsam allegorisch steht für Grausamkeit, Eingrenzung und Bedrohung im Geschehen, das die Regisseurin Jette Steckel als Adaption des Romans Das große Heft der Autorin Ágota Kristóf unglaublich intensiv auf die Bühne bringt. Das ergreifende Spiel des grandiosen Ensembles wird dabei eindrucksvoll begleitet von Karsten Riedel am Schlagzeug und Matthias Jakisic mit der Elektro-Geige, die den Abend mit heftigen Schlägen eröffnen.
Fünf Figuren - vier Männer, eine Frau - tauchen auf, alle in schwarzen Shorts und blassblauen Jacken, offenbar die Zwillinge, um die es geht. Sie stellen sich am Bühnenrand nebeneinander auf und rezitieren chorisch Brechts Pflaumenbaum, das Klagelied auf ein Bäumchen, das beschränkt und eingeengt weder wachsen noch Frucht tragen kann und doch es selbst bleibt. Gegen Ende des Abends werden sie es noch einmal vortragen, gleichsam als Metapher der eigenen trostlosen Existenz.
Das Spiel beginnt: die großartigen Fünf wechseln dabei mit minimalem Kostümwechsel aus der Rolle der namenlosen neunjährigen Zwillinge gleitend in all die anderen Personen der Handlung, wobei der siebzigjährige Pierre Bokma der verwahrlosten Großmutter mit Kopftuch und Stoffmassen als Rock eine rasante, böse Identität gibt. Sie ist es, bei der die wohlbehüteten, von den Eltern heißgeliebten und in ihrer Eigenheit anerkannten Zwillinge vor den Gefahren des Krieges, vor Bomben und Hungersnot, evakuiert werden sollen. Doch die Alte, die von allen in der kleinen Stadt „Hexe“ genannt wird, weil sie vor Jahren ihren Mann vergiftet haben soll, verweigert sich ihnen. Gefühlslos, widerwillig nimmt sie die Kinder schließlich als Arbeiter auf, nennt sie „Hundesöhne“, die ihr Essen verdienen müssen. „Ich werde euch zeigen, wie man lebt!“ droht sie ihnen. „Dach und Nahrung müssen verdient werden.“ Sie lässt sie hungern und draußen schlafen, bis die beiden sich am sechsten Tag ihrer Härte beugen. In einer eindrucksvollen, lang andauernden stummen Choreografie wird ihr Einsatz demonstriert: auf dem nach hinten ansteigenden, mit dunkler, staubiger Erde bedeckten Bühnenboden schleppen sie in schwarzen Eimern und mit Schaufeln die Erde von unten nach oben, stürzen, wälzen sich im Dreck, verschwinden in Staubwolken. Dazu dramatische Klänge der Live-Musik.
In Erzählform, Dialogen und Spielszenen (stets in Wir-Form) wird im Folgenden vom Grauen der Zeit berichtet, dem die Kinder begegnen: vom Pfarrer, der das Nachbarkind, genannt „Hasenscharte“, missbraucht, das außerdem Sodomie treibt und am Ende von den „Befreiern“ „totgefickt“ wird. Von der Magd des Pfarrers, die sich an den Zwillingen vergeht, von einem orientierungslosen Deserteur, einem gewalttätigen Polizisten und von Kolonnen vorüberziehender, elender Deportierter. Und wenn mal etwas scheinbar menschlich Gutes vor den Zwillingen aufblitzt, wie der Schuster, der ihnen Schuhe für das ganze nächste Jahr schenkt, dann vor dem grausigen Hintergrund, dass er um seine Deportation weiß.
Um in dieser Welt zurechtzukommen, sich abzuhärten, beschließen die Zwillinge, ein „Großes Heft“ anzulegen und in „Aufsätzen“ ihre Erlebnisse festzuhalten. Jeweils der andere muss dabei entscheiden, ob der Text „gut“ oder „nicht gut“ ist. „Gut“ heißt: „wahr“. Alles was „gut“ ist, kommt ins Große Heft. Die Titel der Aufsätze sind die Kapitelüberschriften des Stücks, die jeweils kommentarlos vorgetragen werden. Emotionslos und ohne moralische Rückversicherung protokollieren die Zwillinge im Großen Heft ihr völlig wertfreies eigenes System. Ihre „Übungen“, sei es „zur Abhärtung „des Geistes“ oder „des Körpers“, aber auch „im Betteln“ und „Fasten“, jenachdem, was ihnen gerade passiert. Die Methoden sind unterschiedlich, mal ist es körperliches Selbstkasteien, mal die auf der Bühne vorgeführte Wiederholung der Liebeserklärung der Mutter bis zur roboterhaften Gefühlslosigkeit. Die Ergebnisse fassen sie bei passender Gelegenheit dann lakonisch zusammen: „Wir weinen nie“. „Wir wollen nicht nett sein“. „Wir spielen nie.“ „Wir sprechen korrekt.“ Dabei ist erlaubt, was sie für richtig halten. Da gibt’s von ihnen Bedrohung, Erpressung, Lüge, Diebstahl. Am Ende auch versuchter Mord, sei es am Pfarrer oder der Magd, Tötung auf Verlangen der Nachbarin, Giftmord an der Großmutter und das zynische Spiel mit dem Vater, der vier Jahre nach Kriegsende, die er im Gefängnis verbrachte, wieder auftaucht und über die verminte Grenze aus der Diktatur ins freie, benachbarte Ausland fliehen will. Die Zwillinge machen ihm Mut, schicken ihn voran. Er tastet sich durch die schwankenden Gitterstäbe. „Es kommt zur Explosion“. „Ja, es gibt eine Möglichkeit über die Grenze zu gehen: Wenn man jemand vor sich hergehen lässt“, kommentieren die Zwillinge boshaft. Über seine Leiche steigt einer der Zwillinge (Ole Lagerpusch) in die Freiheit und verschwindet unter den Klängen des eingespielten Songs der Band Timber Timbre I Am Coming to Paris (To Kill You) im Zuschauersaal. Das ist die „24. Die letzte Übung: „Die Trennung“, die Trennung der beiden Jungen, die bisher wie ein und dieselbe Person in ausschließlicher Wir-Form sprachen, handelten und reagierten. Eine überraschende Wendung.
Ensemble-Theater auf allerhöchstem Niveau bieten die fünf auf der Bühne, von denen nur einer, Ole Lagerpusch (Zwilling und Nachbarsfrau), Deutsch als Muttersprache hat. Risto Kübar (Zwilling, Hasenscharte, Pfarrer, Vater) ist in Estland geboren, Pierre Bokma (Zwilling, Großmutter) in Paris. Guy Clemens (Zwilling, Magd) und Linde Dercon (Zwilling, Mutter) kommen beide aus den Niederlanden. Die leichte Distanz zur Sprache gibt dem harten, kargen Text einen zusätzlichen, verfremdenden Sound.
Niemand im Roman und im Stück trägt einen Namen: keine Person, auch kein Ort. Dennoch legt die Biographie der Roman-Autorin Ágota Kristóf nah, dass es sich bei der Stadt um den Ort Köszeg an der ungarisch-österreichischen Grenze handeln könnte, in dem die Autorin geboren ist und den sie 1944 als Neunjährige mit ihrer Familie verließ. Doch gerade die Namenlosigkeit der dystopischen Geschichte macht sie zur allgemeingültigen Parabel.
Mit Stürmen der Begeisterung dankte das Publikum für einen Theaterabend auf allerhöchstem Niveau.
Der Pflaumenbaum (Bertolt Brecht 1934)
Im Hofe steht ein Pflaumenbaum / Der ist klein, man glaubt es kaum.
Er hat ein Gitter drum / So tritt ihn keiner um.
Der Kleine kann nicht größer wer’n. / Ja größer wer’n, das möcht er gern.
’s ist keine Red davon / Er hat zu wenig Sonn.
Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum / Weil er nie eine Pflaume hat
Doch er ist ein Pflaumenbaum / Man kennt es an dem Blatt.