Wenn externe Zuschreibungen die eigene Identität verändern
Es sind vor allem Schulklassen, die die Kathrin-Türks-Halle in Dinslaken zur Premiere bevölkern. Max Frischs parabelartiges Drama Andorra ist wieder mal Schulstoff – zum wievielten Male eigentlich seit seinem Erscheinen im Jahre 1961? Es ist ein Stück voller Stereotype, merklich vom Zahn der Zeit angenagt. Aber vielleicht behauptet es gerade wegen dieser Stereotype hartnäckig seine Relevanz: Papierene Figuren lassen sich immer wieder auf zeitgenössische Weise interpretieren. Man muss ihnen nur Leben einhauchen. Um es gleich vorweg zu sagen: Dem Team um Regisseur David Schnaegelberger gelingt das an der Burghofbühne Dinslaken nur in eingeschränktem Maße. Und doch ist der Aufführung angesichts der Grundkonstellation des im Stück behandelten Konflikts die Aktualität nicht abzusprechen. Denn es geht unter anderem um zunächst verborgenen, später immer deutlicher hervortretenden Antisemitismus. Vor zehn Jahren noch hielten wir das Thema in Deutschland – von sektiererischen Minderheiten abgesehen – für weitgehend überwunden. So kann man sich täuschen…
Der Außenseiter dieses Stückes ist der (vermeintliche) Jude Andri, Pflegesohn des Lehrers. Auch ihm werden Stereotype zugeschrieben – nicht von Frisch, sondern von der nichtjüdischen, christlichen Gemeinschaft des Kleinstaates Andorra, der übrigens nichts mit dem real existierenden Fürstentum zu tun hat, sondern bei Frisch eher sinnbildlich für das Heimatland des Autors, die Schweiz, steht. Die Schweiz ist ein Meister im Reinwaschen, und auch in Frischs Andorra weißelt man das Land nicht nur in Erwartung des bevorstehenden Sankt-Georgs-Tages, sondern vor allem als bigotte Demonstration der eigenen Reinheit und Unschuld. In Andorra wohnen die „Weißen“, und die haben Angst vor einem Überfall der „Schwarzen“ aus dem aggressiven Nachbarland, in dem Juden verfolgt und getötet werden (bei Frisch war damit sechzehn Jahre nach Kriegsende naturgemäß das nationalsozialistische Deutsche Reich gemeint). Offiziell hat in Andorra niemand etwas gegen den jüdischen Ziehsohn des Lehrers, der aus dem Land der Judenverfolgung stammt, aber der Junge spürt sein Leben lang die Vorurteile und Diskriminierungen, denen er mal mehr, mal weniger offen ausgesetzt ist. Er hat sich daran gewöhnt und glaubt inzwischen selbst an seine Rolle und die ihm zugeschriebenen Eigenschaften. Dabei wird sich herausstellen, dass Andri keinesfalls ein Jude ist, sondern die Frucht einer außerehelichen Liebe zwischen Lehrer Can und der aus dem Land der Schwarzen stammenden Senora.
Es geht in Frischs Stück also keineswegs nur um Antisemitismus, sondern um die Auswirkungen von äußeren Zuschreibungen auf die Identitätsbildung von Personen, um Stigmatisierungen, um aktive Diskriminierung und stummes Mitläufertum. (Auch die Schwarzen, die nach Andorra einfallen, „wollten eigentlich eine andere Welt“, haben sich aber nicht gewehrt.) Andri, der junge Mann, der den Namen des Landes Andorra trägt und ein sympathischer, zuverlässiger, arbeitsamer Zeitgenosse ist, wird durch das Verhalten seiner Umwelt systematisch zerstört. Wie irrational und grotesk die Vorurteile und Zuschreibungen sind, beweist eine „Judenschau“, bei der sich herausstellen soll, wer dieses fremde Element im Volkskörper ist. Natürlich findet man einen Juden – nur ist es erst einmal der falsche. Einen richtigen gibt es ja nicht, auch wenn die Stigmatisierung natürlich nicht endet. Andri selbst glaubt an diese Zuschreibungen und verteidigt irgendwann sogar sein Außenseitertum. Eine der Kernfragen von David Schnaegelbergers Dinslakener Inszenierung lautet daher: „Kann eine Lüge wahr werden, wenn alle an sie glauben?"
Schnaegelberger hält sich mit seiner Inszenierung bis kurz vor dem Ende eng an den Frisch’schen Text. Ob man dem Autor damit einen Gefallen tut, steht auf einem anderen Blatt. Recht platt wird der Alltagsrassismus im Land der Weißen ausgestellt; die meisten Figuren bleiben papierene Modelle, denen kaum Gelegenheit gegeben wird, zeitgenössische Charaktere zu entwickeln. Die Nöte des Vaters, der längst erkannt hat, dass die Lüge über seinen außerehelichen Fehltritt zur Diskriminierung des geliebten Sohnes geführt hat und der seinen Kummer im Alkohol ertränkt, werden in einzelnen Szenen deutlich; die Widersprüchlichkeiten der Figur des eigentlich wohlmeinenden Paters gehen unter im reduzierten, modellhaften Spiel. Neben dem durchaus Empathie weckenden Andri ruft am ehesten noch der unsympathische Soldat Peider, ein offener Antisemit und rauer Macho, Emotionen beim Publikum hervor. Ausgerechnet er, der mit Andri um dessen Braut Barblin (die sich später als seine Halbschwester herausstellt) konkurriert, spricht einmal die Wahrheit aus, wenn er feststellt, des Paters Kirche sei „nicht so weiß wie sie tut“, weil sie „auch nur aus Erde gemacht“ sei – die Angst vor einem Platzregen, der die weiße Farbe von der Kirchenwand und den frisch gestrichenen Häusern abblättern lässt, steht sinnbildlich für das ängstliche Bemühen Andorras um ein perfektes Außenbild, während der eigene Schmutz nur übertüncht wird.
Man sieht: ein Lehrstück. Den Schülerinnen und Schülern liefert die Inszenierung eine brave, ausgesprochen bieder geratene Bebilderung ihres Lesestoffs. Eine eigenständige Interpretation, die vielleicht gar an der einen oder anderen Stelle zum Widerspruch reizen würde, bietet sie nicht an, obwohl gegen Ende ein Video noch einmal manche Gedankengänge von Schnaegelberger und Frisch zu erläutern scheint. Es mag die eine oder andere Lehrerin oder den einen oder anderen Lehrer freuen, dass eine Auseinandersetzung zwischen den Medien Bühne und Literatur kaum stattfindet und entsprechend auch nicht aufgearbeitet werden muss. Die Chance, neue Theater-Fans in der Schülerschaft zu generieren, wird allerdings vertan. Dennoch ist die Relevanz der Inszenierung nicht in Abrede zu stellen. Trefflich kann man über Alltagsrassismus diskutieren, über Mitläufertum, über Einzel- und Kollektivschuld respektive -verantwortung, über rassistische Klischees und die Gefahren von Lügen und Lebenslügen. Heute wird man diese Fragen sogar im Hinblick auf die in den Schulen der meisten Stadtteile extrem heterogene Zusammensetzung von Klassengemeinschaften führen können. Ein altes, etwas verstaubtes Stück kann da als Anregung zu hochaktuellen Diskussionen dienen – auch über kulturelle Identitäten und ihre Entwicklung im Spiegel von Vorurteilen der Mehrheitsgesellschaft.