Übrigens …

Der zerbrochne Krug im Theater Duisburg

Kreislauf der Misogynie

Theater gilt gemeinhin als Spiegel der Gesellschaft. Was sagt es also aus, wenn der Theaterboden, Stühle und Tische allesamt aus zersplitterten Spiegeln bestehen? In Michael Steindls Inszenierung von Kleists Kultwerk ist nicht nur der namentliche Krug, sondern auch alles andere zerbrochen.

Mit Der Zerbrochne Krug schrieb Heinrich von Kleist um 1808 ein Lustspiel, das bis heute sicher keinem entgangen ist, der sich regelmäßig im Theaterkontext bewegt. Und das zurecht, denn selbst trotz des anfänglich großen Misserfolgs des Stückes - den niemand Geringeres als Johann Wolfgang von Goethe mit seiner stark veränderten Fassung zu verschulden hatte - könnten die Themenkomplexe heute kaum aktueller sein. Auch über 200 Jahre nach Entstehung des Werks treiben uns noch immer Macht- und Amtsmissbrauch, sexualisierte Gewalt und strukturelles Unrecht um.

Kleist verarbeitet diese Themen in einem Gerichtsverfahren in der Kleinstadt Huisum in Holland. Verhandelt wird, wer Marthe Rulls kostbaren Krug zerstört hat. Schnell wird allerdings klar, dass der Aufklärung über die Zerstörung des Kruges ein viel schwerwiegenderes Vergehen zugrunde liegt. Unter Vorhalt einer Lüge nötigt Dorfrichter Adam Marthe Rulls Tochter Eve zu sexuellen Gefälligkeiten, um dessen Verlobten Ruprecht vor dem vermeintlichen Einzug in den Krieg zu schützen. Auf seiner Flucht aus dem Haus zieht sich Adam nicht nur einige Blessuren zu und verliert seine Perücke, er zerbricht natürlich auch den Krug. Die Beweislage scheint eindeutig, doch einzig Gerichtsschreiber Licht scheint die Zusammenhänge zu erkennen, während Marthe Rull ausgerechnet Eves Verlobten Ruprecht beschuldigt. Eve könnte die Wahrheit offenlegen, doch so einfach ist das nicht, wenn der Richter zum Täter wird. Ein Glück, dass an diesem Tag Gerichtsrat Walter in Huisum einkehrt, um die Amtsführung zu überprüfen. Aber wie sehr kann das in patriarchal dominierten Unrechtsstrukturen schon helfen?

Ernste Themen für ein vermeintliches Lustspiel - und doch gehört zum jahrhundertelangen Erfolgsrezept des Stücks wohl die Ambivalenz aus klugem Wortwitz, intelligent konzipierten Figuren und bewegenden Themenkomplexen, bei denen einem das Lachen dann doch im Halse stecken bleibt. Regisseur Michael Steindl scheint diese Essenz erkannt zu haben und rückt mit subtilen Mitteln die Ernsthaftigkeit des Stücks in den Vordergrund, ohne an Humor einzubüßen. Dafür reicht Kleists gewitzte Sprache völlig aus, die gänzlich ohne Klamauk oder Albernheiten auskommt und in seiner Reinheit erst ihr volles Potential mit diversen Lachern entfaltet.

Steindl entscheidet sich in seiner Inszenierung für feine, aber prägnante Elemente, die insbesondere durch ihre unaufdringliche Schlichtheit für Nachhall sorgen. Allem voran sind dahingehend die detailliert konzipierten Kostüme von Bee Hartmann hervorzuheben. Während die männlichen Figuren alle in sattes Schwarz gekleidet sind, basieren die feinen Stoffe der weiblichen Figuren auf Purpur-, Rosa-, und Indigotönen, die bei genauerem Hinsehen stark an Blutergüsse und ähnliche Läsionen erinnern. Dass die Kostüme der weiblichen Figuren mit Ausschnitten aus Gemälden wie aus Michelangelos Die Erschaffung Adams? versehen sind - bspw. Hände, die in den Unterleib greifen -, verstärkt im Zusammenspiel mit dem ironisch aufgeladenen Bildtitel ein zusätzliches Unbehagenallein durch die gelungene Kostümkomposition.

Weitere überzeugende Einfälle finden sich auch in der schauspielerischen Dramatik. So sieht Dorfrichter Adam zu Beginn in jeder weiblichen Figur sein Opfer Eve. In einem Lichtblitz weicht sie den tatsächlichen Figuren, denen Adam mit anhaltender Abneigung begegnet - Frau Rull wird nicht ernstgenommen und wie eine Puppe beiseitegestellt und die Magd Lise unentwegt geringschätzig umherkommandiert. Nuanciert zeigt sich hier aber keine Ohnmacht der Frauen, sondern eine zunehmend entflammende Resilienz. Marthe Rull, gespielt von Ulrike Volkers, rebelliert nach und nach gegen die Vorgaben des Gerichts und kämpft immer hitziger für ihr Recht und auch die Magd Lise versteckt ihre Abneigung gegenüber Richter Adam nicht. Im Gegenteil, Michelle da Silva verleiht ihr mit wenigen Worten, aber dafür mit vernichtenden Blicken und einer prononcierten Körpersprache, eine erstaunliche Kraft. Nicht nur sie sieht dem Niedergang des Richters freudig entgegen. Ernst spielt Adrian Hildebrandt seinen Gerichtsschreiber Licht, der dadurch in besonders stoischer Manier zunächst der einzige zu sein scheint, der an der tatsächlichen Wahrheit interessiert ist. Aber auch Gerichtsrat Walter, gespielt von Kai Bettermann, entwickelt zunehmendes Interesse an dem Fall. Anfangs noch wohlwollend und in seiner Tätigkeit als Prüfer fast etwas beiläufig, wirkt er nach und nach sogar gereizt von dem Chaos vor Gericht und treibt dessen Aufklärung voran.

Steindl gelingt es, alle Figuren im Laufe der Inszenierung eine feinfühlig skizzierte Entwicklung durchleben zu lassen und sorgt damit trotz allen Witzes für eine immense Menschlichkeit mit hochauthentischer Wirkung. Mit teilweise acht Personen auf der Bühne choreographiert die Regie unaufgesetzt mehrere Dynamiken gleichzeitig in einer Szene. Mal nimmt eine Person die andere zur Seite, flüstert ihr etwas ins Ohr, mal wird jemandem ein vielsagender-, mal ein fragender Blick zugeworfen. Diese Vielzahl an Microexpressionen unterstreicht subtil aber gekonnt die psychologischen Vorgänge innerhalb und zwischen den Figuren und lässt das Publikum unentwegt daran teilhaben.

Dahingehend bewegt sich die Inszenierung nicht primär zwischen den Hauptfiguren Eve und Adam, sondern zeichnet viel mehr das Bild einer gesamten Gesellschaft vor Gericht. Dennoch gelingt es Patrick Dollas als Dorfrichter Adam eine besonders einnehmende Performance hinzulegen. Als judiziert ich selbst den Hals ins Eisen mir?, witzelt er als beinahe liebenswerter, fast tattrig netter Herr, nur um diesen Eindruck einige Momente später mit erstaunlicher Bedrohlichkeit und Dominanz aus dem Weg zu räumen. Zwar keiner Lüge scheu gelingt es ihm nicht seine internalisierte Misogynie zu verstecken und demaskiert damit zunehmend den Ursprung seines Verhaltens im Schutze patriarchaler Strukturen. Lulu Feuser als Eve steht hingegen lange Zeit in stiller Verzweiflung neben den Scherben des zerbrochenen Krugs, teilweise unsicher ob über den Krug oder über sie gesprochen wird. Feuser lässt mit stark körperlicher Abneigung Angriffe unterschiedlichster Natur über sich ergehen, bis sie die Kraft aufbringen kann, mit der Wahrheit herauszubrechen und dem Albtraum ein Ende zu setzen.

Aber gelingt ihr das wirklich? Hat doch niemand mit ihr den Übergriff sexualisierter Gewalt verarbeitet. Hat doch der Gerichtsrat Walter selbst den Frauen immer wieder verstohlene Blicke und herabwürdigende Kommentare entgegengebracht. Hat doch Eves Mutter Marthe noch immer keine Gerechtigkeit für ihren Krug erhalten. Hat sogar am Ende Gerichtsschreiber Licht, jetzt in der neuen Position des Richters, Anstalten gemacht, den Kreislauf struktureller Ungerechtigkeit fortzuführen.

Am Ende liegt noch immer alles in Scherben, die Bühne, der Krug, die Gerechtigkeit. Die Inszenierung rückt damit die ernsten Themen des Stückes klar in den Vordergrund. Der Humor wird dabei fein dosiert, kommt aber nicht zu kurz. Mithin zeigt die Inszenierung am Theater Duisburg, dass ein Abend mit ernstem Inhalt auch ohne kitschiges Pathos auskommt und dennoch mit den richtigen Mitteln nachhaltige Wirkung entfalten kann.