Übrigens …

Faust im Köln, Schauspiel

Drei Fäuste sammeln Augenblicke

Nach fünf Jahren in Wien ist Kay Voges wieder zurück in NRW. Von 2010 bis 2020 hatte er das Schauspiel Dortmund zum, wie die WELT einmal schrieb, „führenden deutschen Theaterlabor“ gemacht. Am Schauspiel Köln lässt sich nun gleich in den ersten Wochen der neuen Intendanz beobachten, wie Voges die großen Linien seiner experimentellen Arbeit in Wien fortgeführt hat und in Köln fortführen wird. Mit „Imagine“ (siehe hiernimmt er die ausschließlich visuelle und musikalische Gesellschaftsanalyse unter Rückgriff auf die Bildende Kunst wieder auf, und mit der Übernahme der drei Jahre alten, teilweise neu besetzten Faust-Produktion vom Volkstheater Wien demonstriert er dem NRW-Publikum, wie sich seine Beschäftigung mit dem Medium der Fotografie weiterentwickelt hat. Die hatte vor acht Jahren mit einem von Voges und seinem aus Dirk Baumann, Alexander Kerlin, Matthias Seier und Anne-Kathrin Schulz bestehenden Dramaturgie-Team selbst entwickelten „Theater-Essay“ begonnen. Das Team setzte die Live-Fotografie als wesentlichen Bestandteil einer Inszenierung ein und fragte, wie es in der Stück-Ankündigung hieß, „nach dem Verhältnis von Bild, Abbild und der Flüchtigkeit des Moments: Kann der Augenblick jemals eingesammelt und auf ewig festgehalten werden?“

hell. Ein Augenblick“ (siehe hier) stellte damit eine geradezu faustische Frage. „Werd‘ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!...“ - dann, ja dann wird der nörgelige, ennuyierte Universalgelehrte aus Johann Wolfgang von Goethes Opus Magnum seine Seele ganz und gar Mephisto übereignen. Genau 25mal komme der Begriff „Augenblick“ in „Faust I“ vor, hat der Dramaturg Matthias Seier gezählt. Faust wird tatsächlich den Augenblick erleben, den er nicht mehr loslassen möchte. Aber festhalten lässt er sich nicht - nicht einmal mit Hilfe der Fotografie, denn die war zu Goethes und Fausts Zeiten noch nicht erfunden. Ohnehin lässt sich wohl einwenden, dass die Fotografie es zwar möglich macht, Augenblicke visuell festzuhalten, aber wohl kaum ihre emotionale Wirkung zu konservieren. Manchmal mag es gelingen, sich mit Hilfe einer Fotografie an Emotionen zu erinnern, die einen im Moment der Entstehung der Bilder erfasst haben. Doch wiedererlebbar sind sie nicht. Es bleibt maximal eine unscharfe Folge von Augenblicks-Erinnerungen.

hell. Ein Augenblick“ markierte 2017 auch den Beginn der Arbeit des Regisseurs mit dem Theater- und Werbefotografen Marcel Urlaub. Wie damals bewegt sich Urlaub auch bei Voges‘ Faust zwischen den Schauspielenden und leistet mit seinen Live-Fotografien einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung der Inszenierung. Faust ist der Sammler von Augenblicken, Urlaub derjenige, der sie fotografisch festhält. Für gleich dreieinhalb „Fäuste“ genau genommen, die Heinrich Faust nicht nur in den unterschiedlichen Lebensaltern, sondern auch mit unterschiedlichen Facetten seiner Persönlichkeit verkörpern. Sie ahnen es: Dieser Faust wird mächtig fragmentiert. Das bringt Kosten mit sich: im Hinblick auf den Flow der Aufführung, aber auch im Hinblick auf das Verständnis des schwierigen Stücks bei Zuschauern, die ihren Goethe nicht so genau kennen. Aber das bringt auch Ertrag.

Urlaub spielt virtuos auf der Klaviatur der Fotografie. Zu Beginn knipst er einfach hinein ins Parkett. Mit kurzer Verzögerung erscheinen die Schnappschüsse auf einem großen Vorhang. Amüsiert erkennt man sich selbst; man entdeckt beeindruckend viele Bekannte, die man im Foyer noch nicht begrüßt hat. Nach solchem amuse oeil wird es ernst: Urlaub sendet aus einem kubusförmigen Bungalow, der an Bert Neumanns frühere Bühnenbilder für Frank Castorf erinnert und Schlaf- und Studierzimmer, Gretchens Stube, Valentins Schlachtfeld und manches schlüpfrige Vergnügungsparadies beherbergt. Die Bilder sind mal gestochen scharf, mal verschwommen, mal bewusst überbelichtet und spiegeln verschiedene Ästhetiken der Fotokunst wider. Dramaturg Seier hat auch Einar Schleefs Droge Faust Parsifal gelesen und im Verein mit dem verstorbenen Autor entdeckt, dass man in Goethes Faust jede Menge aus der Fotografie bekannte Phänomene wie Blitze, Lichteffekte, Hell-Dunkel-Wechsel finde. Konsequenterweise wird Voges‘ Inszenierung zu einem fulminanten Licht- und Bilder-Spektakel.

Die lineare Geschichte des Goetheschen Dramas interessiert den stark assoziativ arbeitenden Regisseur eher am Rande. Für sie ist am ehesten Andreas Beck zuständig, der den alten Faust gibt, den desillusionierten Wissenschaftler und Forscher, der immer noch auf der Suche nach ultimativer Erkenntnis ist. Beck ist der Ruhepol der Inszenierung - und gleichzeitig der Langeweiler. Wie ein Schauspieler aus alten Zeiten deklamiert er auf der Vorderbühne seinen Text, old-fashioned, mit gebremstem Charisma. Kompliment für diesen Mut: Dass Beck das anders kann, weiß man selbstverständlich, aber der Schauspieler zeigt, was ist: Goethes Universalgelehrten hat lähmende Langeweile, vielleicht gar große Antriebslosigkeit befallen. Diesen Mann kann tatsächlich nur noch ein Pakt mit dem Teufel und der Sex mit einer jungen Frau aus seiner Lethargie reißen. Ist es Geilheit oder Verzweiflung, was ihn dazu treibt? Kompliment für den Mut, das zu versuchen. Oder sollten wir eher mit tadelndem Kopfschütteln reagieren?

Jedenfalls drehen sich unsere bürgerlichen Eltern im Grabe um, wenn sie sehen, was in Köln unter der Knute eines dreifaltigen Mephistos aus dem bewunderten Professor wird. Jörg Immendorfs Ausschweifungen im Steigenberger Parkhotel sind nix dagegen: Schwankende Gestalten geistern im Drogenrausch durch Michael Sieberock-Serafimowitschs Kubus; Silikonmasken mit dem mächtigen Schädel von Andreas Beck sitzen auf den schmächtigen Körpern von Uwe Rohbeck, Paul Grill und anderen leichtgewichtigeren Schauspielern und paaren sich in wüsten Sex- und SM-Orgien mit vier verschiedenen Gretchen, bei denen Umschnall-Dildos und züchtig verklebte Brustwarzen irgendwie nicht ganz zueinander passen. Jedenfalls haben es die Greten offensichtlich nicht mehr allzu sehr mit der Religion: Ein weiblicher Mund öffnet sich in Großaufnahme zum Tor zur Hölle. Faust, das entfesselte Role Model der Bildungsbürger, giert nach Ekstase statt nach Erkenntnis. Dass Uwe Genser, der „mittlere“ Faust, gleich mehrfach während der Aufführung im Zustand eingeschränkten Bewusstseins groggy vor seinem Bette zusammenbricht, kann bei solchem Lebenswandel nicht überraschen.

Nun muss das weibliche Tor zur Hölle nicht unbedingt zu einer der Margareten gehören. Denn auch zwei der drei Mephistos sind weiblich. Birgit Unterweger und Lavinia Nowak in rassigen, sexy roten Roben, Uwe Rohbeck dazu mit allerliebsten Teufelshörner-Stümpfen geben drei ansehnliche Satansbraten ab. Manchmal steckt der Teufel halt in einer jungen Frau und hat sich dort gut versteckt. Unterweger und Nowak gehören gleichzeitig zum Team der vier Gretchen - es wohnen eben mehrere Seelen in mancher Brust, wie Voges schon mit seinen Fäusten beweist. Eine Grete lockt verführerisch mit tiefem Ausschnitt, die andere hat einen feministischen Kern - und manche ist so brav wie Hasti Molavian. Sie und Lavinia Nowak spielen ihre Figur gegen Ende in konservativem grünem Outfit mit züchtiger Rocklänge. For good girls, however, there is no heaven on earth. Sie werden leicht zum Opfer. Die ausgebildete Mezzo-Sopranistin Molavian singt wunderschön das Lied vom König von Thule - und wird vom toxisch männlichen Theaterdirektor Uwe Schmieder solange niedergemacht, bis Marcel Urlaub genügend Tränen vor der Linse hat und ihr Lied zum Ende tatsächlich in der Tonlage verrutscht. - Wie so oft bei Voges spielt die Musik eine atmosphärisch dominante Rolle. Paul Wallfisch hat einen tollen Soundtrack zusammengestellt, der von Carl Orffs bombastischer Carmina Burana bis zu Dolly Partons „Satan's River“ und Indie-Rock-Rhythmen reicht.

Auch die Ausstattung bietet Bilder der Extraklasse. Hatten bei „Imagine“ die Ästhetik der Gemälde von Edward Hopper und der hyperrealistischen Fotografien von Gregory Crewdson das Bühnenbild und einzelne Szenen dominiert, so erinnern manche Figuren im Faust an die queeren Menschen, die die amerikanische Fotografin Nan Goldin auf ihren Fotografien abbildet. Die phantasievollen Kostüme von Mona Ulrich und Videos von Max Hammel zitieren gelegentlich den Trash amerikanischer Western-, Horror- und Partyfilme. Auf einem Schlachtfeld, auf dem ein abgerissener Kopf und, wenn nicht alles täuscht, die Leiche von Gretes Mutter liegt (so genau lässt sich das in der assoziativen Aufführung nicht immer definieren) treffen wir einen längst brutalisierten, Zigarette rauchenden Valentin mit blutigem Unterhemd und Camouflage-Hose an. Gott tritt als brennende Sonne auf.

Es ist also bannig was los im Schauspiel Köln. Nur die „Worte, Worte, Worte“, die der Theaterdirektor Uwe Schmieder zu Beginn wichtigtuerisch angekündigt hatte, gehen ein wenig unter. Wenn man den Faust aus Augenblicken zusammensetzt, in Momentaufnahmen erzählt, gar ein paar Szenen aus Faust II dranhängt, aber kaum Zusammenhänge schafft, läuft man Gefahr, trotz des hohen Erlebniswerts der Aufführung phasenweise die Aufmerksamkeit seines Publikums zu verlieren. Wer die Welt allzu sehr fragmentiert, läuft Gefahr, aus dem Auge zu verlieren, was sie im Innersten zusammenhält. - Zum Schluss aber gibt es noch einmal eine große Szene. Der Theaterdirektor, also Goethe alias Uwe Schmieder, wird zum vierten Faust-Darsteller dieser Inszenierung. Er wird am Seil gen Himmel hinaufgezogen und stirbt mit den in der Überlieferung (fälschlich) seinem literarischen Schöpfer in den Mund gelegten Worten „Mehr Licht!“ Es folgt ein letzter Click, gleißende Helle, dann Dunkel - wie damals, bei „hell. Ein Augenblick“. Und so verweist die Aufführung noch einmal auf das Experiment mit der Fotografie im Theater - der Fotografie als Sinnbild für das Verhältnis von Erinnerungen und Nachbildern, von Mensch und Zeit, Leben und Tod. Und Hell und Dunkel.