Der Mensch als digitales Knochen-Portfolio
Pech gehabt, wenn man wie der Schreiber dieser Zeilen sein Mobile Phone im Auto vergessen hat: Gabriel Carneiro und Bianca Mendonça tragen QR-Codes auf Arm, Brust und Rücken, und wenn man sie scannt, erscheint ein Gemälde auf dem Bildschirm des eigenen Telefons. Leider konnte es der Autor nur flüchtig bei einer auf dem Handy einer freundlichen Mit-Besucherin betrachten. Vielleicht sollte das Gemälde eine Erinnerung an eine vergangene Kultur sein? An eine Kultur, in der es noch Kultur gab? Die angedeutete Wirbelsäule nebst Lunge und Blutbahn, die die Performer auf ihre schwarzen, ihnen ein androgynes Gepräge gebenden Shirts gedruckt haben, gehört auf jeden Fall zur Gegenwart dieser Geschichte. Also zur Zukunft: Das 2019 gegründete DESLOCAR Kollektiv bezeichnet seine Performance als eine „ethisch-dystopische Erzählung über Extraktivismus, Macht und Widerstand“.
Wir schreiben das Jahr 2035. Die Klimakatastrophe hat Europa erreicht, der Meeresspiegel ist gestiegen, Millionen von Menschen wurden aus den überfluteten Regionen vertrieben, Schiffspassagen und Fernflüge sind wegen der zahlreich auftretenden Extremwetterlagen nicht mehr möglich, einige Regionen leiden unter Trockenheit, und immer wieder brechen imperialistische Kriege aus. Auf dem Videoscreen am Kopf der langen, aber schmalen Bühne berichtet der sympathische junge CEO einer Bone Mining Company stolz, wie er der Bevölkerung dennoch Gesundheit und Wohlstand gesichert hat: „Früher war ich nur Fleisch“, sagt er und scheint noch im Rückblick eher angewidert. Heute aber sei er ein digitales Knochenportfolio. Im Ruhrgebiet hat ein erfolgreicher Strukturwandel stattgefunden. Dort, wo einst Kohle abgebaut und Stahl produziert wurde, ist ein neues Silicon Valley entstanden: Man forscht an biochemischen Prozessen und schürft nach Knochen. Der menschliche Körper wird zur Mine; Knochen werden zu Gold und extrahierte Daten zu Rohstoffen. Der Wohlstand ist gesichert, zumindest für die Schicht der Besitzenden. Die anderen kloppen sich physisch um ihre gegenseitigen Körperteile und knabbern einander an auf der Suche nach Seltenen Erden … äh … Rohstoffen. Das Glück liege im Simple Life, predigt der junge CEO - mutmaßlich ist es nur für die Mehrheit der weniger Mächtigen und Betuchten wirklich „simple“.
Der 3D-Drucker rattert und spuckt aus, was wie eine neue Art kultischer Gegenstände aussieht. Das Publikum wird einer Therapie mittels trockener Kekse und einer soeben im Labor entstandenen blauen Flüssigkeit und unterzogen. Dieser Akt der Solidarität erscheint wichtig, wie damals bei Corona, als der Mensch sich impfen lassen sollte, aber nicht immer wollte. Im Freien Werkstatt Theater Köln herrscht Gemeinsinn: Ausnahmslos alle schlucken das Zeug; auf dem Bühnenboden entsteht eine Linie aus Kekskrümeln, die auch eine allzu stark gekrümmte, knochige Wirbelsäule darstellen könnte. Da wiederholt sich also das Motiv der Zeichnung auf den Performer-Shirts. Inzwischen ist auch die Richtlinie im neuen Après-Katastrophen-Staat entstanden: Wir haben alle Rechte an unserem Körper, unserer Identität und unserem Leben den digitalen Netzwerken überschrieben.
Das alles könnte ein spannender politischer Theaterabend werden. Die Grundideen, die das DESLOCAR Kollektiv entwickelt hat, sind bestechend und gewinnen gerade in der heutigen Zeit wachsender Skrupellosigkeit autokratischer und pluto-, wenn nicht gar timokratischer Staaten an Aktualität. Das von der Gruppe selbst gesetzte Ziel, ein Theaterprojekt über ethische Implikationen von Technologie und die Ökonomisierung des menschlichen Daseins zu entwickeln, wird erkennbar. Großartig gelingt am Ende ein von Carneiro vorgetragenes englischsprachiges Gedicht, das die schöne neue Welt der digitalen Dystopie im Stile der englischen Romantik zusammenfasst. Der technoide Soundtrack von Vito Oliveira Azevedo ist klasse, die Videos sind professionell gemacht, wenngleich sie sich auf eine reine Bebilderung der Erzählung beschränken und weniger Teil des kreativen Schaffensprozesses sind. Hübsche, sogar ein wenig poetische Bilder entstehen, wenn Carneiro und Mendonça zeitlupenartig hinter der Videowand agieren und für das Publikum nur als Schattenrisse erkennbar sind. Die tänzerischen und pantomimischen Bewegungen der Performer auf der Haupt-Bühne wirken dagegen ein wenig unbeholfen. Vor allem aber werden eine Vielzahl von angerissenen Gedankengängen nicht zu Ende geführt (oder sie bleiben unverbunden); inhaltlich, aber auch zeitlich fehlt es an einer Dramaturgie für den Ablauf des Abends. Das ist schade, denn viele gute Gedanken verpuffen so recht wirkungslos. Künstlerisch verharrt die Performance in halbwegs ambitioniertem Dilettantismus.