Übrigens …

Laios im Köln, Theater im Bauturm

Der Weg des Schicksals

Die Sphinx singt und sorgt damit für Terror und Wahnsinn in Theben. Kinder beginnen in den Schulen rückwärtszuschreiben, ein Mann mauert sich lebendig ein, während ihm seine Familie dabei zusieht und auch sonst begehen die Thebaner aneinander die irrwitzigsten Grausamkeiten. Manch einer beginnt sogar zu sinnieren und so wird im beschworenen Fieberwahn die Geschichte der Stadt und all seiner Herrscher – insbesondere von König Laios – aufgeschlüsselt.

Die alte Geschichte der Stadt Theben ist bekannt, wenn auch von komplexer Fülle: Sie reicht vom Mythos um Europa und Zeus über König Kadmos, der einen Drachen erschlug und dessen Zähne aussäte, aus denen Männer wuchsen, bis zu Dionysos, den sich Zeus vor seiner Geburt ins Bein nähte, nachdem er dessen schwangere Mutter getötet hatte – und noch viele grausige Generationen weiter bis zu Laios. Wer diese verworrene Vorgeschichte genauer nachvollziehen will, erlebt sie in den ersten dreißig Minuten von Hans Drehers Inszenierung als pointiertes Frage-Antwort-Spiel mit Darstellerin Laura Thomas. Bis ins kleinste Detail exerziert sie zusammen mit dem Publikum jede Generation Thebens, bis sie letztendlich beim namensgebenden Laios ankommt. Dort erst beginnt die eigentliche Geschichte.

Roland Schimmelpfennig schrieb den Monolog für das Theaterspektakel Anthropolis im Deutschen Schauspiel Hamburg, welches im September 2023 Uraufführung feierte. Laios bildete dabei den zweiten Part des fünfteiligen Events und wurde dort von Lina Beckmann verkörpert, welche wegen ihrer überragenden Leistung zu zahlreichen Festivals (wie u.a. den Ruhrfestspielen Recklinghausen, den Berliner Festspielen und den Mülheimer Theatertagen) eingeladen und allseits gelobt, gefeiert und sogar ausgezeichnet wurde.

Auch Regisseur Hans Dreher und Schauspielerin Laura Thomas trauen sich an Schimmelpfennigs ambivalentes Werk, in welchem die alten Mythen in einen modernen Raum gesetzt und teilweise sogar mehrere Versionen eines Aspekts offeriert werden. Initial im Prinz Regent Theater Bochum entwickelt, findet sich die Produktion jetzt auch im Theater im Bauturm in Köln wieder und entfaltet dort einen ganz eigenen Charakter.

Laura Thomas führt mit schelmisch-zynischer Manier durch den gesamten Abend und berichtet auf der zu einer schrägen Straße verwandelten Bühne von Clara Eigeldinger – mal hängend, mal stehend, mal in akrobatischen Posen – wer sich auf dieser Straße behauptet und wer dort überfahren und erschlagen wird. Eine gewisse Grausamkeit zieht sich damit durch den gesamten Bericht, als Antidot muss daher wohl Humor her. Thomas beweist in den ersten dreißg Minuten mit ihrem Crashkurs thebanischer Geschichte ein immenses Talent für Improvisation und Komik. Mit ihren natürlichen Reaktionen während der Publikumsbefragung wirkt Thomas damit nicht nur erstaunlich unaffektiert, sondern legt auch ein bemerkenswertes Talent für Witz und Rhetorik an den Tag. „Zögern Sie nicht, Sie sind jetzt gerade Teil des Stückes“ erklärt sie fordernd – wenn auch unfreiwillig, scheint das Kölner Publikum doch begeistert von diesem Umstand.

Ist die Unterrichtseinheit beendet, folgt die Geschichte von König Laios. Auch hier mit ordentlich Witz aber nach und nach auch mit Mut zur Ernsthaftigkeit und Düsternis. Mit subtilen Mitteln gelingt es Dreher nicht nur abgründige visuelle Räume zu schaffen, sondern auch die Konflikte der Figuren mit entsprechenden Akzenten behutsam zu konturieren. Die musikalische Komposition von Max Kotzmann fügt sich dabei als atmosphärischer Resonanzraum besonders gelungen ein. Laura Thomas offenbart wiederum durchgehend eine tiefgreifende Empathie für die Figuren, die sie alle auf feinfühlige Weise mit ganz eigener Persönlichkeit, Authentizität und Autonomie füllt.

Hans Drehers Inszenierung nivelliert zwischen viel Witz auf der einen Seite und der Darstellung dramatischer, grausamer und erschütternder Schicksale auf der anderen. Laios‘ Schicksal wurde durch die hellsehende Pythia längst besiegelt. „Prophezeiungen sind nichts als ein Gefängnis ohne Mauern“ heißt es, und doch führt auch in Schimmelpfennigs Version kein Weg an Laios‘ Sohn Ödipus vorbei, der seinen Vater erschlagen, Kinder mit seiner Mutter Iokaste zeugen und ein weiteres erschütterndes Kapitel in der Geschichte Thebens schreiben wird. Laios‘ Weg endet damit wortwörtlich und so wird die schräge Straße, der Boden der Inszenierung, am Ende zerstört bzw. zerrissen.

Ein Abend mit diesem Inhalt könnte durchaus sehr düster werden, dies scheint jedoch weder vom Text noch inszenatorisch intendiert zu sein. Durch die starke Publikumsinteraktion zu Beginn und dem nahezu durchgängig neckischen Witz wird eine besonders intime und emotionale Verbindung zwischen Schauspiel und Publikum aufgebaut – die existentielle, tragische Schwere des Werks wirkt dabei aber fast deplatziert. Zwar entwickeln die düsteren Szenen durch diese Diskrepanz einen besonderen Kontrast, dieser entfaltet durch die allgemein heitere Stimmung allerdings fast keine Wirkung. Die Idee schien ohnehin eine andere zu sein, denn laut Thomas sei der Bildungsauftrag allein schon damit erfüllt, dem Publikum eine Leier zu präsentieren, die vor den Proben zwar gekauft wurde, ansonsten aber keinen Nutzen mehr fand. In fast eineinhalb Stunden gelingt es Hans Dreher und Laura Thomas dennoch, einen kurzweiligen Abend ohne Längen auf die Bühne zu bringen, der vor allem eines schafft: zu unterhalten.