Übrigens …

Volkswagen im Mönchengladbach, Theater

Ein Stück Deutschland

Es muss etwa 1973 gewesen sein; der Schreiber dieser Zeilen absolvierte gerade seine Ausbildung zum Bankkaufmann und wurde stolzer Besitzer eines nagelneuen orangefarbenen VW-Käfers. Den hat er nie geliebt, aber eine unzuverlässige Citroën-Ente wollte Papa nicht finanzieren. Es war später der Käfer, der früh den Weg alles Irdischen ging und mit Motorschaden verreckte. Aber das tut hier nichts zur Sache.

Es muss etwa 1973 gewesen sein; der Schreiber dieser Zeilen absolvierte gerade seine Ausbildung zum Bankkaufmann und las in der Zeitung vom desaströsen Aktienkurs von Volkswagen. VW war lange ein Ein-Produkt-Unternehmen und hatte die Modernisierung und Diversifizierung seiner Modellpalette verschlafen. Sogar die Insolvenz drohte. Und es war ungelogen der Tag des historischen Tiefststandes der VW-Aktie, als der junge angehende Bankkaufmann überlegte, vielleicht sei es an der Zeit, die Aktie zu kaufen. Ihm fehlte der Mut; noch heute schluchzt er in die Kissen ob der verpassten Gelegenheit.

Geschichte wiederholt sich. Gar manche Innovation hat der VW-Konzern verschlafen in den letzten Jahren, insbesondere im Hinblick auf die Elektromobilität. China ist im Begriff, die deutsche Autoindustrie abzuhängen - und VW, 1985 sensationell der erste Automobilanbieter der Welt, der in China eine Limousine produzieren durfte (den Santana), hat inzwischen sowohl im Hinblick auf den Umsatz als auch auf die Zulieferindustrie eine so große Abhängigkeit vom chinesischen Markt erreicht, dass diese existenzbedrohend werden könnte. Wie in Clemens Bechtels Inszenierung von Volkswagen am Theater Mönchengladbach, die hier beschrieben werden soll, kann man sich darüber streiten, ob der Konzern „seine Seele an China verkauft“ oder richtigerweise die Internationalisierung vorangetrieben, hat, um den Konzern zu retten. (Wahrscheinlich stimmt beides.)

Geschichte wiederholt sich. Das einstige Ein-Produkt-Unternehmen Volkswagen ging auf die Initiative des Größten Führers aller Zeiten zurück, und der hieß damals nicht Mao, sondern Hitler. Er ließ von Ferdinand Porsche den Kraft-durch-Freude-Wagen konstruieren, den man später Käfer nennen sollte und der nach dem Untergang des Tausendjährigen Reiches die einzigartige (und schläfrig machende) Erfolgsgeschichte von VW begründete. Als Hitler aber mit seinen imperialen Phantasien den Untergang des Reiches einläutete, baute VW erstmal anstelle von Zivilfahrzeugen militärisch genutzte Kübelwagen und anders Kriegsspielzeug. Man wüsste gerne, wie die Arbeiter in Fallersleben und anderenorts auf die Umwidmung ihrer Produktion reagiert haben, aber offiziell sagen durften sie ja nichts. Heute, wo sich die Herren Putin und Trump zu größten Führern aller Zeiten träumen und die Welt wieder zu einem unsicheren Ort machen, gerät nicht nur das VW-Werk in Osnabrück zum Kandidaten für die Produktion von Rüstungsgütern. Manche Gutbürger werden zu Wutbürgern. Letztendlich haben sie aber nur die hypothetische Wahl zwischen künftiger Unfreiheit und (notfalls auch bewaffnetem) Kampf für Meinungsfreiheit und Demokratie.

Geschichte wiederholt sich. Seinen Käfer hat er zwar nie geliebt, der Schreiber dieser Zeilen. Aber seinen 1978 mühsam zusammengesparten Golf GTI, den roten Renner, der auch Flussdurchquerungen klaglos in Angriff nahm, hat er seit über vierzig Jahren als Erinnerungsfoto an der Wand hängen. 1987 wollte er sich ein solches Gefährt ein zweites Mal kaufen. Alle Hersteller stellten ihre Modellpalette gerade auf umweltfreundliche Katalysatoren um - nur VW hinkte hinterher. Die VW-Vertretung am Niederrhein versuchte den interessierten Käufer, der diese Zeilen schreibt, mit aller Macht daran zu hindern, sein neues Auto mit Katalysator zu bestellen. Das habe bei einem sportlichen Fahrzeug wie dem GTI keine Zukunft, denn der Kat koste 10 PS an Leistung. Ich musste also neun Monate auf mein Neufahrzeug warten; ohne Kat betrug die Lieferfrist etwa acht bis zehn Wochen. 37 Jahre später wurde VW vom Diesel-Skandal erschüttert: Im Konzern waren durch Einbau einer illegalen Software die Abgaswerte manipuliert worden. Umweltvorschriften hat VW stets besonders zögerlich umgesetzt, wenn nicht gar zu umgehen versucht - 1987 ebenso wie vor 2015.

Und doch ist Volkswagen ein Vorbild: Spaltmaße, Zuverlässigkeit, Ingenieurskunst - da ist VW top. Man gehört nach wie vor zu den Weltmarktführern (wenn auch nicht mehr überall), und ging es mal bergab, ging es später auch wieder bergauf: Das „Anfahren am Berg“ beherrschte das Unternehmen, wie es in Clemens Bechtels Inszenierung am Theater Krefeld Mönchengladbach heißt. Paula Emmrich, die bei Bechtel die Patriarchin Angelika P. spielt und viele Züge der dritten Frau des langjährigen diktatorischen VW-Patriarchen Ferdinand Piëch trägt, führt noch andere Qualitäten des Konzerns auf: Leadership, Disziplin, Anstand, Pioniergeist, Sparsamkeit, Innovation, Forschung und Design. Das eine oder andere stimmt, über anderes kann man streiten. Sie trägt auch viele Züge ihres Gatten: Detailliertere technische Kenntnisse über seine Produkte und die der Konkurrenz wird wohl kein Konzern-Chef jemals mehr haben. Wenn Oma Angelika formuliert: „Meine Familie ist ein Auto, eine Fabrik, ein Konzern“, dann mag man ergänzen: Das gleiche gilt für Deutschland. VW ist auch ein Stück Deutschland, ist Wirtschaftswunder, ist Vorzeigequalität, ist Motor nicht nur für Mobilität, sondern auch für wirtschaftlichen Aufschwung. Ist deshalb mächtig genug, um Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Ist mittelbar und unmittelbar einer der wichtigsten Arbeitgeber des Landes. Und hatte deshalb stets einen mächtigen Betriebsrat - so mächtig, dass auch der zur Bedrohung des Unternehmens (und vor allem seines guten Rufs) werden konnte.

Aber diese Diskussion wollen wir nicht auch noch aufmachen. Das tut Clemens Bechtel, der eine herausragend geschriebene collageartige Geschichte des VW-Konzerns auf die kleine Bühne des Studios Mönchengladbach gebracht hat, auch nicht. Obwohl ein Betriebsrat eine wichtige Rolle in seiner Inszenierung spielt: Er wird auf großartige, angemessen differenzierte Weise verkörpert von Bruno Winzen. Seine Rollen als Mitarbeiter des Werkschutzes und als „Antonio“, Gast- und VW-Arbeiter der 2. Generation, verschwimmen in der von Bechtel selbst inszenierten Aufführung schon mal, aber auch Betriebsrat Antonio ist VW - nicht unkritisch, aber höchst loyal zum Unternehmen, wie es viele Betriebsräte in deutschen Großunternehmen sind. Er kämpft für seinen Laden. Und sagt, anders als die für die Notwendigkeiten der Zeitenwende blinden Protestler in Osnabrück: „Ich will, dass es hier weitergeht - notfalls mit Panzern.“

Der junge Mann, zu dem er dies sagt, stammt aus gutem Hause, hat 35 Semester Soziologie studiert, ist ein Leben lang für soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen - und das schwarze Schaf der Volkswagen-Familie. Der links-grün-versiffte Sozial-Revoluzzer (Tim-Fabian Hoffmann) kriegt jedes Jahr ein Neufahrzeug aus dem Konzern vor die WG-Tür gestellt und durfte schon mit 9 Jahren an seinem Kindergeburtstag mit Freunden zum Gocart-Fahren in die Welt hinausziehen. Zum Dank lehnt er alles ab, was VW nach gängiger Meinung retten könnte (Private Equity Fonds oder sonstige heuschreckenartige Plagen zum Beispiel). Oma Angelika, einerseits ideologisch korrekt und möglicherweise auch nicht ganz unrealistisch als arrogante Oberschicht-Aufsteiger-Schickse dargestellt, andererseits stoisch das Klassismus-Denken der restlichen Familie ertragend, ist nicht ganz ungeschickt im Umgang mit ihrem angeheirateten Spross: Mit unsichtbarer, aber harter Hand und großem Pragmatismus lenkt sie, was noch zu lenken ist, und ignoriert, wo eh Hopfen und Malz verloren ist.

Ignoriert wird im Konzern auch der Umgang mit Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, die während des 2. Weltkriegs in allen NS-Betrieben eingesetzt und ausgebeutet wurden. Kateryna Nazemtseva gibt in Mönchengladbach die Zwangsarbeiterin Olga, der man ihr Neugeborenes weggenommen hat. „Hier gibt es keine Kinder, nur Autos“, lautet der lakonisch-erbarmungslose Kommentar der Konzernleitung dazu. Tatsächlich hat man zwischen 1943 und 1945 Tausende von Zwangsarbeiterinnen-Kinder von ihren Müttern entfernt; angeblich starben 365 Kinder von sowjetischen und polnischen Kindern von VW-Zwangsarbeiterinnen an Hunger und Vernachlässigung.

Sie merken schon: Bechtel ist ein kleines Kunststück gelungen. Kammerspielartig, im Ambiente einer etwas heruntergekommenen Autowerkstatt erzählt er von Großkopfeten und Arbeiter-Nöten, von Nazi-Verbrechen und kriminellen Betrügereien, von Stolz und Vorurteil, Erfolg und Niederlage - und von den Querelen innerhalb der großen VW-Piëch-Porsche-Familie. Ein umfangreiches, nahezu vollständiges Panorama deutscher Wirtschaftsgeschichte von den 1930er Jahren bis in die Zukunft hinein wird in höchst unterhaltsamen 80 Minuten anhand von Einzelschicksalen erzählt - und zwar meist ausgesprochen differenziert. Nonchalant und mit hintergründigem Humor integriert Bechtel sämtliche Vorurteile gegen Unternehmer-Arroganz und Sozial-Romantiker in seine Geschichts-Erzählung, die in der Tat von den nationalsozialistischen Anfängen bis zum Dieselskandal reicht. Natürlich - wir sind ja in der typischerweise linksgrün-versifften Theaterszene - hat das manchmal eine leichte ideologische Schlagseite, aber wie anders als kritisch könnte man sich dem VW-Konzern in einem Rückblick auf seine Errungenschaften und Skandale nähern (siehe die vorgeschalteten persönlichen Erfahrungen des Rezensenten). Natürlich: Wenn die „Idee der Beherrschung von Raum und Zeit“ als Antrieb für die Automobilindustrie gleichgesetzt wird mit dem Traum von der nationalsozialistisch kontaminierten „Kraft durch Freude“, so wird vergessen, dass genau dies, die Beherrschung von Raum und Zeit, ein ewiger Menschheitstraum ist. Er hat bereits viele Innovationen hervorgebracht, die dem Menschen Wohlstand, Freizeit und Komfort beschert haben. Wenn der (im VW-Konzern scheinbar vollkommen fehlplatzierte) Bugatti Veyron reduziert wird auf seine Funktion als „fahrende Machtdemonstration“ von Großvater Piëch (ausgerechnet der Revoluzzer-Enkel zählt die positiven Eigenschaften des Boliden auf), wird negiert, was für grundlegende Einflüsse die Forschung für solche Traum-Autos auf die Verbesserung von Komfort und Verbrauchswerten, vor allem aber auf die Sicherheit der Allerwelts-Gefährte haben. Stattdessen wird das Auto als „Ego-Kapsel“ denunziert, deren Nutzer ihre Freiheit in der Abschottung von äußeren Einflüssen und der Feier ihrer Individualität zu Lasten eines Gemeinschaftsgefühls sehen. Doch meist gelingt es Bechtel, die vielen kritischen Punkte in der Volkswagen-Geschichte mit den Erfolgen des Konzerns und ihrem Beitrag zu Wohlstand, Wirtschafts- und Produktentwicklung zu verbinden.

Ich bin Volkswagen“ - das ist das von verschiedenen Figuren (und einmal auch vom gesamten Ensemble) immer wiederholte Mantra, hinter dem sich Eigentümer, Geschäftsleitung, Angestellte und Arbeiter gemeinsam versammeln können - trotz aller Skandale, trotz häufig fragwürdigen Führungsstils. Bechtel gelingt es, das Gegeneinander und das Miteinander der verschiedenen Interessengruppen leichthändig und ohne erhobenen Zeigefinger darzustellen. Schon im Interesse der deutschen Wirtschaft und der Arbeitslosen-Statistik wünschen wir dem Konzern ein langes Leben. Clemens Bechtels exzellenter Inszenierung mit ihren herausragenden Schauspielerinnen und Schauspielern sollte das erst recht beschieden sein.

Zu guter Letzt wirft Bechtel einen Blick in das Jahr 2075. Es ist eine Zukunft ohne Auto - die letzten Golfs werden als Kunstwerke in Museen ausgestellt. Volkswagen ist in der KI engagiert, in der Konstruktion und dem Management von schwimmenden Megastädten und autonomen Hyperloop-Pods. Volkswagen wird zum paraplanetaren Mobilitätsbewusstsein - einem System aus Technologie, Gesellschaft und Philosophie. Das könnte eine wunderbare Utopie sein, aber auch eine erschreckende Dystopie - je nachdem, ob sich die Moral durchsetzt oder die Gier. Funktionieren wird es nur in einem demokratischen, marktwirtschaftlichen System. Glaubt jedenfalls der Rezensent.