Übrigens …

Der Frieden im Moers, Schlosstheater

Auf den Schwingen des Mistkäfers

Sage und schreibe 22 Jahre lang hat Ulrich Greb das Schlosstheater Moers als Intendant und erster Regisseur geleitet und das kleinste Stadttheater der alten Bundesrepublik zu einem der kreativsten, künstlerisch aufregendsten Häuser in NRW gemacht. Als Spielleiter verspricht er dereinst wieder irgendwo aufzutauchen, aber als Theaterleiter hat er sich im Sommer in den Ruhestand verabschiedet; Seine Nachfolger Daniel Kunze und Jakob Arnold starten mit einem selten gespielten Stück von Aristophanes (ca. 450-380 v. Chr.) in die neue Ära, und der erste Satz, der unter ihrer Ägide im neuen alten Haus erklingt, hört sich an wie ein umarmender Willkommensgruß an das Publikum: „Trinken wir noch einen!“ - Ein Kiosk für die Weinverkostung steht schon auf der Bühne.

Der gehört dem Weinbauern Trygaios. Sein Shop wirkt ein bisschen runtergekommen; das „s“ der Beschriftung ist schon abgefallen. Es herrscht Krieg - und zwar schon seit 13 Jahren. Es handelt sich um den Peloponnesischen Krieg, wie uns die auch als Erzählerin fungierende Clara Pinheiro Walla als Trygaios‘ Tochter erläutert. Der erfasste im 5. Jahrhundert vor Christus mehr oder weniger ausnahmslos alle Stadtstaaten Griechenlands. Er markiert den Anfang vom Ende der attischen Demokratie. Der alte und schon ein wenig hinfällig wirkende Trygaios des Matthias Heße steht kurz vor der Resignation. Er kann sich die Gegenwart nicht schön trinken und dabei zusehen, wie sein Land zerstört wird. So reist er auf den Schwingen eines Mistkäfers gen Himmel, um Zeus ins Gewissen zu reden. Der Göttervater möge ihm doch bitte den großen Plan hinter den sinnlosen Zerstörungen darlegen und erklären, was er mit dem Volk der Griechen eigentlich vorhabe. Zeus aber ist abgehoben in eine höhere Sphäre. Die Götter sind ausgeflogen, denn der Kriegslärm und die Streitlust der alten Griechen waren ihnen zu heftig, der Gestank ihrer Leichen zu unangenehm. Polemos, der Gott des Krieges, hat nun die Macht: Er „will eine Art Suppe aus den Städten machen“, wie Götterbote Hermes (Rose Lohmann) erzählt. Bald sehen wir Florian Kager am Kochtopf, wo er die Suppe bereits genüsslich mit Paprika aus Cherson würzt. Den Frieden hat er vergraben - allerdings ausgerechnet auf dem Grundstück des Trygaios. An die Arbeit also: Graben wir ihn wieder aus! Denn: „Werktätige aller Länder: Es rettet uns kein höheres Wesen!“ Die Botschaft von Zeus‘ Gerechtigkeit, so erkennt Trygaios, ist „eine göttliche Desinformationskampagne.“

Das ist lustig und skurril - und von Daniel Kunze, der das fast 2500 Jahre alte Stück Der Frieden überschrieben hat, herrlich formuliert. Schon bis hierher hat Kunze so manche vordergründig witzige, tatsächlich aber nachdenklich machende Situation genutzt, Verbindungen ins Heute herzustellen. Die Schraube wird nach Trygaios‘ Rückkehr aus dem Himmel noch einmal angezogen: Diskutiert werden brandaktuelle Fragen. Die Gesellschaft - bestehend aus Trygaios‘ Familie und Nachbarin - offenbart in einer wunderbar zart gespielten Szene anlässlich von Trygaios' Rückkehr aus dem Himmel Sehnsucht nach dem Guten, Wahren, Schönen. Die Politik reagiert anders: Während Trygaios die Notwendigkeit zu schnellem Handeln betont, wollen die anderen erstmal eine Kommission gründen. Wenn man den Frieden ausgräbt, zieht das schließlich eine Menge Konsequenzen nach sich. Kann man dann alle Waffen einmotten? Frieden schaffen ohne Waffen - geht das überhaupt? Und wenn nicht: Lässt sich Frieden schaffen mit ganz viel Waffen? Wie ist das eigentlich mit der Pflicht zur Übernahme von Verantwortung? Kann man sich als Individuum aus der Verantwortung nehmen oder gibt es sowas wie eine Kollektivverantwortung? Wann (und vor allem auf welche Weise) schreitet man ein gegen Genozide, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern? Ist es eigentlich Aufgabe der Dichter und der Politiker, ewigen Frieden zu schaffen? Oder müssen wir der Politik nicht dankbar sein, wenn es ihr gelingt, den Frieden zu verlängern? Außerdem, mal ehrlich: Krieg ist doch auch ein Konjunkturprogramm! Man höre auch auf Herrn Pappergeros (ebenfalls Clara Pinheiro Walla), der die Interessen der vorchristlichen Rheinmetall vertritt und mutmaßlich gerade manchen Aktionären hohe Gewinne eingefahren hat.

Das ist alles sehr realistisches Gedankengut - und nicht so einfach mit pazifistischen Floskeln abgetan. Bei Genoziden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen wir auch in den nicht unmittelbar beteiligten Staaten nicht nur Verantwortung für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir unterlassen. Waren pazifistische Träumer mit ihren Wünschen nach Abschaffung von Militär nicht in empörendem Maße zynisch, waren westliche, zivilisierte Staaten in der Vergangenheit nicht unverzeihlich verantwortungslos, als sie tatenlos zusahen, wie sich in manchen außereuropäischen Konflikten Menschen aus religiösen oder ethnischen Gründen gnadenlos abschlachteten? Inwieweit ist man heute bereit, Meinungsfreiheit gegen einen trügerischen Frieden durch Unterwerfung unter Autokraten und Diktatoren einzutauschen? Blickt man auf Russlands Überfall auf die Ukraine, auf das terroristische respektive menschenrechtsverletzende Vorgehen von Hamas bzw. israelischer Regierung im Gaza-Konflikt, wird man zu der realistischen Einschätzung kommen, dass alles, was gute Politik vermag, darauf begrenzt ist, den Frieden zu verlängern. Ewigen Frieden zu schaffen, wird wohl eine Utopie bleiben.

Ups, jetzt sind wir plötzlich ernst und nachdenklich geworden bei der Rezension dieser kurzen, schnell gespielten Komödie. Dabei kommt sie daher wie ein unanstrengendes Unterhaltungsprogramm. Sie wirkt keineswegs überkomplex. Man lacht viel, ist gut unterhalten, manche Szenen geraten fast zum Jugendtheater. Chorisch gesungene Songs von den Beatles bis Henry Purcell lockern die Inszenierung auf. Deren Humor ist mal derb, mal subtil, mal kalauernd und dankenswerterweise frei von jeglichem Trash. Das komplette neue Ensemble hat Gelegenheit, sein komödiantisches Talent zu zeigen. Doch es bietet eine stimmige Mischung aus höherem Blödsinn, Wortwitz und: Erkenntnis. Der Frieden, so stellt Catherine Elsen fest, ist „in aller Munde, spricht aber nie“. Er kommt in der „Tagesschau“ nicht vor, wirkt auf den Bühnen der Theater langweilig und hat keine Stimme. Und so ist er denn - kaum aus Trygaios‘ Garten ausgegraben - schnell verschollen.

Gibt es eine Lösung? Natürlich nicht. Die Inszenierung dreht sich kurz vor ihrem Ende ein wenig im Kreis, was letztlich aber nur die aufgezeigten Dilemmata verdeutlicht. Wenn Siliconos und Pappergeros noch einmal betonen, den Frieden könne man nur aus einer Position der Stärke verteidigen, machen Pinheiro Walla und Lohmann durch ihren kabarettistisch überspitzten Auftritt klar, dass dies aus Sicht des Theaters nicht die Lösung sein kann. Ihre Figuren wollen gar „den Frieden in sein Loch zurück“ werfen. Da entfernt sich das Theater in seiner wohlmeinenden Attitüde von der Realität und wird doch allzu sehr zum Tendenzbetrieb.

Trinken wir noch einen?“ Ja, selbstverständlich. Bei allem kriegerischen Geschrei um uns herum bleiben Genuss und Miteinander wichtig. Aber wichtig sind auch Haltung, Bereitschaft zum Verzicht und Übernahme von Verantwortung. Bei Trygaios buddeln am Ende alle mit den Händen im Dreck nach dem Frieden und brabbeln in babylonischer Sprachverwirrung durcheinander, ohne einander zuzuhören. Die Friedenspolitik wird weiter viele widersprüchliche Gesichter zeigen; eine einvernehmliche Welt wird wohl Utopie bleiben. In Moers aber, wo man Haltung und Genuss in der Auftaktinszenierung der neuen Intendanz so überzeugend miteinander verband, erhob sich das Publikum zu Standing Ovations.