Der dämonische Verführer
Das Leben könnte so schön sein: La dolce vita am Mittelmeer. Im Grand Hotel gastieren fein gekleidete Badegäste wie aus einem Visconti-Film, am Strand steht der Liegestuhl bereit. Doch irgendetwas stimmt nicht: Der deutschen Familie werden die gewünschten Plätze auf der Restaurantterrasse verweigert, ein harmloser Husten des Sohnes erzwingt den Hotelwechsel, und als die kleine Tochter kurz mal nackt zum Meer läuft, gibt es Gezeter und eine Geldstrafe.
In Thomas Manns Reiseerzählung Mario und der Zauberer erwächst aus dieser Grundstimmung das im Titel versteckte tragische Ereignis. Die italienische Regisseurin und Ausstatterin Luisa Guarro hat es in ihrer Bühnenfassung für das Wolfgang-Borchert-Theater getreulich nachempfunden und die Grundelemente der Handlung nicht angerührt. Allerdings fügt sie die Tochter der Familie nicht nur aus dramaturgischen Gründen zu Beginn als Erzählerin ein, sondern weist ihr auch die Aufgabe zu, dem Ende der Geschichte eine Art Epilog zu geben. Und setzt damit fort, was schon den Verlauf der 90-minütigen Aufführung geprägt hat: Die bei Thomas Mann eher subkutan geschilderten Hinweise auf den Nährboden des Mussolini-Faschismus stellt sie deutlich heraus. So tauchen im Rahmen der fremdenfeindlichen Vorfälle auch Schwarzhemden-Gestalten auf, und die fröhlichen italienischen Lieder gehen in eine klammheimliche Faschisten-Hymne über. Der Boden ist somit bereitet für den Auftritt des Zauberers Cipolla.
Den spielt Jürgen Lorenzen - und ist ein Ereignis. Äußerlich deutlich smarter als der von Thomas Mann beschriebene dämonische Hexenmeister gibt Lorenzen einen Verführer, dessen Hypnosekräften selbst widerständige Teilnehmer aus der italienischen Zuschauergemeinde erliegen. Regisseurin Guarro, die schon aus der Platzsuche des Publikums ein ulkiges Kabinettstück gemacht hat, lässt Rosana Cleve, Ivana Langmajer und Katharina Hannappel schrill verzückt der Trickserei verfallen; Niclas Kunder verkörpert das erste Opfer Cipollas, das sich unter eingebildeten Koliken windet. Florian Bender schließlich, zu Beginn noch in der Rolle des mehrfach düpierten Familienvaters, ist nun der arme Kellner Mario, den der Hypnotiseur willfährig macht und dem Gelächter des Publikums preisgibt. Und wie Cipolla sich aus sanfter Beredsamkeit zu markigen Reden steigert, in denen er nicht nur die legendäre Duse, sondern auch den Duce und dessen Marsch auf Rom feiert, das setzt Jürgen Lorenzen hinreißend um, unterstützt von suggestiver Lichtregie - bis hin zum Tanz auf dem Vulkan.
Da Thomas Manns Erzählung schon 1930 erschienen ist, rückt Luisa Guarro das geschilderte, durch reale Erlebnisse inspirierte Ereignis in die Perspektive der Tochter, die sich nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Dezember 1948 erinnert. Somit fehlt es der Bühnenversion nicht an politischer Deutlichkeit. Sie bietet aber zugleich faszinierenden Theaterzauber.