Allzu turbulente Verwandlungen
Vor etwa hundert Jahren entwirft Virginia Woolf in ihrem Roman Orlando. A Biography die fiktive Lebensgeschichte Orlandos über einen Zeitraum von mehr als 400 Jahren, vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis ins Jahr 1928, dem Erscheinungsjahr des Romans. Obwohl es in dem Werk um die Befragung von Geschlecht, Identität und Zeit geht, wozu die Autorin zweifellos durch ihre eigene Liebesbeziehung zur Schriftstellerin Vita Sackville-West inspiriert wurde, beginnt der Text mit der Behauptung, dass über das Geschlecht ihrer Hauptfigur kein Zweifel besteht. „He – for no doubt …“ beginnt sie. Lässt den Sechzehnjährigen aus einer traditionsreichen englischen Adelsfamilie auf dem Dachboden Kampfsport trainieren, um in die Fußstapfen der heldenhaften Vorfahren zu treten. Doch schon im dritten Kapitel wird er nach einem siebentägigen Tiefschlaf von den Schwestern Reinheit, Keuschheit und Bescheidenheit umgarnt und mit drei Trompetenstößen der Wahrheit, nichts als der Wahrheit als Weib aufgeweckt. In den folgenden drei Kapiteln wird er die verschiedenen Zeitalter und Gesellschaften sowie das eigene Leben als Frau durchleben.
Ganz anders führen uns Martin Laberenz (Regie) und Melanie Walz (Text) in ihre Adaption für die Bühne ins Geschehen ein. Auf der vernebelten Bühne steht eine graue Hauswand mit vergitterter oberer Etage, die eher an alte Plattenbauten, als an ein königliches Jagdschloss erinnert. Der Nebel verzieht sich und Leo Domogalski erscheint als Conférencier im Abendanzug mit Lackschuhen und beginnt mit einer schier endlos erscheinenden Namensliste von Leuten, denen man Dank für geleistete Hilfe schuldet, seien es Chinesen, Russen oder jede Menge Engländer bis hin zu den Mitarbeitern des British Museum. Dann noch der Hinweis, dass es da unbelegte, rätselhafte Episoden in Orlandos Lebensgeschichte gibt, die „quer zu seinem Lebensweg“ liegen und die „ein kleines bisschen Spekulation, und, naja, Fantasie erforderlich“ machen.
Das hat Länge. Doch dann erscheinen auch die anderen acht Personen, die uns jetzt in rasantem Wechsel der Figuren das Schicksal Orlandos präsentieren oder kommentieren werden: Leona Bert, Olga Matus, Nils Mikisch, Mika, Carlos Motolese-Trausen, Carla Ljine, Emil Schüler, Pauline Stine Steger, Felina Zeller – alle Studierende der Folkwang Universität der Künste (Von den Fünfen, die dabei in die Rolle des Protagonisten schlüpfen, seien Carla und Emil besonders erwähnt, bei Olga, die erst seit 2022 in Deutschland studiert, hapert‘s noch mit der Sprache.) Unglaubliche Fantasie legt Adriana Braga Peretzki in die Kostümierung. Beim ersten Auftritt, steckt sie alle Damen in aufwendigen Glitzerroben, einige historisch anmutend, andere wie gerade aus dem Kleiderschrank gegriffen. In schnellem Wechsel folgen dann immer wieder neue Ideen. Besonders die opulenten, ausladenden Halskrausen zitieren mal die Mode ihrer Zeit bei Männern wie Frauen (aber da geht ja ohnehin alles durcheinander) oder werden ein anderes Mal mutig mit heutigem Outfit kombiniert. Auch der Kopfschmuck erzählt Geschichten. Besonders attraktiv der riesige knallrote Federschmuck der Königin Elisabeth I. zum leuchtend roten Ballkleid, die Feuer und Flamme für Orlanda ist und dann eifersüchtig zusehen muss, wie er es mit einer anderen treibt. Viele Episoden und Figuren aus dem Roman werden nur angedeutet: so die misslungenen literarischen Ergebnisse, die in einer Schubkarre auf die Bühne gekarrt werden und von zwei Windgebläsen aufgewirbelt werden; später auch noch aus dem Schnürboden flattern.
Bevor der Literaturkritiker Nick Greene eins ausgewischt bekommt, stimmt Leo Domogalski Fever Ray’s Song Memory comes when memory’s old … aus Keep The Streets Empty For Me an. Dann kommt die entscheidende Wandlung: Carla Ljine liegt als Orlando im Pink-Seidenanzug auf einem Sofa in der Türkei und schläft seit sieben Tagen. Gelegentlich tritt sie aus der Rolle und fragt, ob sie aufwachen kann. Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Reinheit, Keuschheit, Sittsamkeit versuchen unterdessen vergeblich, ihn aufzuwecken. Endlich gelingt es der Wahrheit: „Hier herrscht Wahrheit, hier herrscht die Tatsache, dass Orlando eine Frau geworden ist.“ Wer das Original nicht kennt, tut sich vermutlich schwer, die Zusammenhänge zu erfassen. Der ständige Wechsel der Rollen, die nur angedeuteten Episoden und reichlich veralberten Einlagen lassen vieles nur erahnen.
Im letzten Teil werden dann die Fragen sexueller Orientierung, der Geschlechtszugehörigkeit und immer wieder des Soziopolitischen Kontextes verkaspert durch turbulenten Partner- Geschlechts- und Identitätswechsel.Da stellt sich die Frage, ob diese nur angerissenen Themen nach 400 Jahren, oder auch nur nach 100 Jahren noch einen Komödienabend füllen. In dieser Form der Gag-Revue eher nicht - trotz der engagierten Leistung der jungen Leute.