Die Möglichkeit zum Glück
Alles ist bereitet für eine schöne Feier. Sechs weiß gedeckte Tische bieten 30 privilegierten Gästen Platz, zu denen sich der Schreiber dieser Zeilen zählen darf. An einem siebten Tisch, der etwas erhöht in der Mitte steht, finden sich die ehemaligen College-Buddies ein, die mit Patrick und Joey Hochzeit feiern wollen. Ein DJ hat schon seine Instrumente aufgebaut; die Diskokugel wirft romantisches Licht an Decke und Wände. Wir befinden uns im Downtown Brooklyn Marriott Hotel – klingt gut, ist aber, wie wir im Laufe des Abends erfahren, nicht die edelste Adresse. Denn das Brautpaar muss sparen.
Weil das Brautpaar sparen muss, hat es Joeys Kusine Missy mit der Hochzeitsplanung beauftragt, die diesen Job vermutlich ohne Honorar übernommen hat. Und weil die weiß, dass das Brautpaar sparen muss, hat sie einfach mal mit ein paar Noshows gerechnet und etwas weniger Essen bestellt. Die Noshows aber showen up, so dass die Buddies am erhöhten Tisch wohl leer ausgehen. Die 30 Gäste, die ein wenig mehr für den Eintritt bezahlt haben, bekommen kein Marriott-Menü, sondern Risotto aus der Pappschachtel, das allerdings, wie der Rezensent bestätigen kann, recht schmackhaft ist. Weniger schmackhaft ist der DJ, den Missy engagiert hat – nicht nur die Musik ist ziemlich schrecklich: Das Auftreten des Musikers ist es auch. Missy hat also nicht ganz Unrecht, wenn sie ihn feuert. Bloß gibt es jetzt weder vernünftige Mucke noch irgendwas zu essen. Stattdessen sitzt am College-Buddy-Tisch eine professionelle Hochzeitsplanerin, die das alles natürlich viel besser organisiert hätte und ziemlich krass drauf ist. Für Konfliktstoff ist also gesorgt. Braut Joey hängt weinend im Ankleidezimmer oder aufm Klo rum; Bräutigam Patrick werden wir den ganzen Abend nicht zu Gesicht bekommen. Nicht schlimm: Rote Neonschrift weist den Weg zu „Bar & Bathroom“.
Ja, auch theater:pur ist klar, dass das alles nach einer furchtbar billigen Boulevard-Komödie mit höchst erwartbarem Witz klingt. Aber deshalb müssen Sie doch nicht gleich aufhören zu lesen! Das Theater Oberhausen spielt Eine perfekte Hochzeit zweimal am Silvesterabend, und wenn Sie das Pappschachtel-Risotto nebst albernem DJ buchen, werden Sie keineswegs unter Niveau unterhalten. Denn das Stück stammt aus der Feder von Matthew López. Es war das Vorgängerstück zu dem Mammut-Drama, mit dem López im Jahre 2018 seinen endgültigen Durchbruch schaffte. Die siebenstündige Schwulen-Saga Das Vermächtnis (The Inheritage) war nicht nur in den USA, sondern auch bei uns ein Riesen-Erfolg. Die deutschsprachige Erstaufführung von Philipp Stölzl am Münchner Residenztheater wurde zum Berliner Theatertreffen 2023 eingeladen, und wir in Nordrhein-Westfalen hatten nach ein wenig Anlaufzeit unsere Freude an einer höchst gelungenen Inszenierung von Sebastian Schug am Theater Münster. Jenseits des Großen Teichs wurde López für sein berührendes Queeren-Stück sogar zum „wichtigsten Dramatiker des Jahrhunderts“ ausgerufen – kurz nachdem Teile der amerikanischen Presse Zoey’s Perfect Wedding noch etwas miesepetrig rezipiert hatten.
Natürlich ist weder Matthew López der Dramatiker des Jahrhunderts noch ist Die perfekte Hochzeit ein schlechtes Stück. Im Gegenteil: López hat eine höchst amüsante Komödie mit originellen Formulierungen und vielen prägnanten Pointen geschrieben. Sie ist bissig und spitzzüngig – und findet wie Das Vermächtnis am Ende einen warmherzigen, versöhnlichen und hoffnungsvollen Ton. Und sie spielt vor einem dezidiert politischen Hintergrund, den man mitdenken kann, aber nicht muss. Der Autor jedenfalls hat sein im Februar 2018 in Denver uraufgeführtes Stück sehr bewusst im Jahre 2008 angesiedelt. Barack Obama ist gerade zum Präsidenten der USA gewählt worden und wird nach den eher dumpfen Jahren unter George W. Bush zum Hoffnungsträger einer demokratischen Gesellschaft; eine rechte Spinnerin wie Sarah Palin scheint Geschichte zu sein; die Finanzkrise, in der López‘ Figur Charlie seinen Job als Derivatehändler verloren hat, liegt ein paar Monate zurück. In dieser Zeit wird López‘ Stück zum Porträt einer verunsicherten, angeschlagenen Gesellschaft, in der es erste Hoffnungen auf Besserung der Lage gibt. Heute hat sich die Welt erneut gedreht. Die Vereinigte Staaten werden zur Autokratie umgebaut, die nach der Finanzkrise eingeführten Kontrollmechanismen zurückgedreht respektive ganz abgeschafft, und Sarah Palin kann niemanden mehr schrecken, weil längst viel radikalere rechte Mächte am Ruder sind. Die Relevanz, die Matthew López‘ Komödie heute wieder hat, gab es auch bereits zum Uraufführungszeitpunkt: Es war der Beginn der ersten Amtszeit von Donald Trump.
Dass die Komödie in Oberhausen vermutlich zum Erfolg werden wird, liegt aber auch an den perfekt auf der Grenze zwischen outriert und bedauernswert auftretenden Schauspielerinnen und Schauspielern. Da ist zuvörderst die bereits erwähnte Missy – ein aufgeregtes Huhn fürwahr, ein bisschen überkandidelt schrill, mehr aktivistisch als effizient. „Was war das denn für ein verhuschtes Megafon?“, fragt Sammy, als Missy erstmals kreischend an ihm vorbeiläuft. Gut formuliert - doch Franziska Roth, die sich immer mehr zu einer Anchor Person am Theater Oberhausen entwickelt, weckt für Ihre Figur auch so etwas wie Mitleid und Sympathie (nicht nur weil die diplomierte Kommunikationswissenschaftlerin Missy inzwischen hochverschuldet ist und sich immer noch als Leiharbeiterin durchschlagen muss). Vor allem weiß Missy bei aller aufgeregten Hin- und Her-Rennerei, wann sie schweigen muss. Und dann ist man ihr plötzlich mit dem Herzen nahe.
Rachel, die Freundin der Braut, ist bei Regina Leenders die größte Giftspritze unter den Anwesenden. Als professionelle Hochzeitsplanerin vertritt sie eher konservative familiäre Werte und hält dem schwulen Potenz-Protz und permissive Lebensart pflegenden Sammy (Jens Schnarre) erstmal eine Gardinenpredigt, bevor sie dann mit einer fulminanten, schon merklich alkoholgeschwängerten Rede auf die Institution Ehe zum Rundumschlag ausholt: „Eine Hochzeit ist der Urknall, mit dem die Ehe losgeht. Schon mal gehört, dass alles im Universum aus Trümmern des Urknalls besteht?“, spottet sie - und wünscht Joey eine glückliche Ehe auf den Trümmern ihrer Vermählung: „Denke immer daran, wenn du die Wäsche faltest…“ Woran sie selber denkt, mag man später ahnen, wenn ihr Gatte Charlie, angenehm ruhig gespielt von Christoph Quest, das Problem seiner längst erkalteten Ehe offenlegt. Berührend ist Charlies unbeholfener Versuch, ausgerechnet auf der Basis der Ratschläge des Sex-Protzes Sammy die Ehe mit Rachel zu kitten. Rachel jedenfalls ist erstmal sprachlos.
Ausgerechnet der schräge DJ (in Oberhausen zunächst angemessen nervig, später überraschend sympathisch gespielt von Daniel Rothaug) weist mit einer berührenden Anekdote über seinen Vater, der den Titel des Films „The Color Purple“ („Die Farbe Lila“) mit „The Colored People“ verwechselt und glücklich über seinen nur halb verstandenen Inhalt ist, den aufgedrehten, aber innerlich unglücklichen Menschen dieses Dramas den Weg zur ultimativen Weisheit. Kaum jemand bekomme, was er sich wünsche. „Aber du bekommst irgendwas, und du wirst es lieben.“ In den Trümmern des Urknalls gibt es immer noch etwas, das man lieben kann. Diese Erkenntnis wird zum Wendepunkt in López‘ Stück. Ob seine Protagonisten ihre Chance zur glücklichen Wende in ihrem Leben nutzen werden, bleibt offen. Aber der Rezensent hat’s ja gesagt: Eine perfekte Hochzeit ist ein perfektes Silvesterstück. Wir haben die Möglichkeit zum Glück. Ergreifen wir die Gelegenheit – nicht nur im Neuen Jahr.