Des Königs Buffet geplündert
Irgendwie sehen sie aus wie die Londoner Beefeater. Purpurrot gekleidet, ausgestattet mit Wappen und Standarte, treten die vier Fanfaren ihren Dienst an. Sie sind des Landes beste Naturtrompeter, Das Spielen auf der klappen- und ventillosen Naturtrompete erfordert äußerste Disziplin, aber diese waltet nicht nur beim Tuten und Blasen, sondern auch in ihren gemessenen, exakt choreografierten Bewegungen. Hohle Rituale bestimmen das Leben am Hof. Die Trompeter nehmen Platz – unten vor dem riesigen, erhöhten Tisch, den die Bühnenbildnerin Marlena Gundlach offenbar aus dem Audienzraum des russischen Präsidenten entwendet hat. Ganz unten - denn mögen sie auch die Protagonisten unseres Theaterstücks sein, so sind sie doch die Untertanen. Hoch droben über ihnen wartet ein opulentes Frühstücksbuffet auf den Herrscher.
Auch der hält, wie man bald erfährt, üblicherweise strenge Rituale und Zeitpläne ein. Heute jedoch ist er noch nicht eingetroffen. Die Fanfaren, die miteinander blasen, aber nicht miteinander reden, haben unerwartet die Gelegenheit zu überlegen, ob und wie man künftig miteinander kommunizieren sollte. In Abwesenheit des Königs werden die Kaisersemmeln weich und die Fanfaren mutiger. Wo bleibt die Disziplin? Bald klauen die vier sogar den Käse vom Buffet. Das wird doch wohl nicht etwa … ein Arbeiteraufstand? - In sechs Kapiteln entdecken die Fanfaren die Freiheit - und essen vom Baum der Erkenntnis.
Viel mehr passiert eigentlich nicht in Noëlle Haeselings eigenwilligem "royalen Lustspiel", das Andreas Widenka am Theater Oberhausen kongenial in Szene gesetzt hat. Streng hierarchisch nach Alter und Erfahrung hat der König die Fanfaren besetzt. Vier Schauspieler aus vier Generationen sind in ein Korsett gezwängt, das nach den Regeln des Hofes keine Individualität zulässt. Aber wenn der jahrein, jahraus gleiche Ablauf von Routinen unterbrochen wird, reagieren vier Generationen doch unterschiedlich. Torsten Bauer als Oberfanfare ist ein ultradisziplinierter, keinen Improvisationen zugeneigter Herr des autokratischen Regelwerks, Tim Weckenbrock, der gemäß Selbstauskunft seine Tröte selten aus der Hand legt, gesteht den Kollegen ein, dass ihm die Naturtrompete den Schnuller ersetzt, und Nadja Bruder als vorwitzige, kecke Nachwuchsfanfare erfindet sich mit ihrer Mimik und ihrem Gespür für die winzigsten Nuancen des Texts als Vierte Fanfare glatt eine Traumrolle. Susanne Burkhards Figur wiederum weist depressive Symptome auf. Andererseits ist sie die Sehnsuchtsvolle, scheu und mutig zugleich, lechzend nach Mehrkornbrötchen und einem Mindestmaß an privatem Austausch. Und der wird gleich ziemlich intim!
Die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Könige, die die Fanfaren diskutieren und die sie sowohl bei Hinrichtungen als auch beim Verspeisen des Bratens erwarten dürfen, lässt jedenfalls zu wünschen übrig. Was macht eigentlich einen König aus, fragen sich die vier. Nun, es ist wohl „ein Drittel er selber, ein Drittel wir, und ein Drittel die Krone“ - Persönlichkeit, Projektion und geliehene Macht also. Mit subtilem Humor zeigt die Autorin Noëlle Haeseling in ihrem ebenso auf Motive des Märchens wie auf die Traditionen des Absurden Theaters zurückgreifenden Stück die grotesken Auswirkungen hohler, nicht durch die Persönlichkeit erworbener Autorität – und zwar die Auswirkungen sowohl auf die Mächtigen als auch auf die Machtlosen. Ganz allmählich lösen sich die Fanfaren von ihren Lebenslügen. Eher unbewusst als reflektiert erkennen sie die Zwänge und die überkommenen Traditionen, die sie in ihrer Freiheit eingeschränkt haben. Zögerlich, aber unaufhaltsam greifen sie zur Selbstermächtigung. Ängstlich gehen sie die ersten Schritte in die Freiheit, bevor sie auf wunderbar naive Weise der Doppeldeutigkeit des Begriffs "Bedeutung" und den Gefahren der Autokratie auf die Spur kommen. Sie beginnen zu hinterfragen – und siehe da: Verschüttete oder verdrängte Erinnerungen werden geweckt. Und die lassen das Lachen auf den Gesichtern des Publikums gefrieren...