Grenzgänger im Morgenwind
Eigentlich „kennt“ man diese Bielefelder Tänzer doch. Aber in Rainer Behrs Tanzstück Herbstzeitlose sind sie kaum wieder zu erkennen. Als hätte Pina Bausch selbst ihnen durch ihre Fragen und Stichworte zu Improvisationen, aus denen ihr geniales revueartiges Tanztheater entstand, tief verborgene kreative Kräfte und technische Raffinessen entlockt, so erlebt man Brigitte Uray, Elvira Zuñiga, Kristin Mente, Claudia Braubach und Anna Eriksson, Simon Wiersma, Tiago Manquinho, Gianni Cuccaro und Adrian Look an diesem Abend im idealen Ambiente des Theaterlabors in der ehemaligen Produktionshalle der Dürkopp-Nähmaschinenfabrik. Immerhin aber tanzt der Choreograf ja seit 1995 im Tanztheater Wuppertal. Seine furiosen Soli setzen unvergessliche, atemraubende Glanzlichter. Was Wunder, dass seine eigene choreografische Handschrift hier, obwohl lange vor der Bausch-Zeit geformt, von der Folkwang-Technik, der auch Gregor Zöllig folgt, geprägt ist.
Der zarte, blätterlose Herbstkrokus trägt, wie so manche Heilpflanze, tödliches Gift in sich. Herbstzeitlose steht in Behrs Choreografie als poetische Chiffre wohl für die Gratwanderung zwischen Nutzen und Gefahren, Wohl und Wehe auf dem Lebensweg. Leer, finster und kalt wirkt die quadratische schwarze Tanzfläche. Ganz hinten stapeln sich Strohballen, liegt achtlos entsorgter Ramsch auf einem dicken, unappetitlichen Bett von Stallstreu – wie „Verbrannte Erde“ (so eins der Probenstichworte). Das offene Scheunentor führt ins nachtschwarze Nichts. Licht fällt auf die Tür, aus der wie in Trance eine junge Frau (Brigitte Uray) barfuß, mit ungekämmter Mähne in einfachem, beigen Kleid tritt. Rastlos tasten ihre Hände, winkeln sich ihre Arme unnatürlich ab. Immer wieder wird sie dann wilde Tänze vollführen, bis sich am Ende die Eingangsszene wiederholt. Veitstänze sind das, als wolle sie Todesangst abschütteln. Wie einen Sack schleppt Tiago Manquinho die völlig Erschöpfte auf dem Rücken schließlich weg. Auch andere wirbeln und wälzen sich, springen tollkühn, wandern über die Wand (Kristin Mente, gehalten von drei Männern) und marschieren alle gemeinsam wie auf einem endlosen Fließband von hinten nach vorn, rennen zurück, beginnen von Neuem. Das fulminante Tempo, mit dem Rainer Behr in Bauschs Stücken wie ein gejagtes Wild in Todesangst über die Bühne fetzt, erreicht niemand. Aber zu spüren ist die unsägliche Not, das verzweifelte Mühen („…und trotzdem versuchen, vorwärts zu kommen“), die brutale Überlegenheit der Männer, die die Frauen schleifen, die Reglosen von Bänken kippen wie Leichname in ein Massengrab, sie dann und wann auch mal linkisch trösten, schützen und stützen – alle sind sie wie „Grenzgänger“ im „Morgenwind“….
Auch der Franzose Fabien Prioville tanzte bei Bausch. Auch in seinem Solo für Dirk Kazmierczak From Here to There spielen Lebensangst und das vergebliche Mühen die Hauptrolle. Kazmierczak stellt einen Tag im Leben eines Managers dar. Lustlos krabbelt er morgens unter dem Zebrafell auf dem Teppichboden hervor, stülpt die verstreut liegenden Klamotten über den Körper, gönnt sich einen doppelten Cognac zum Frühstück. Und noch einen… bis zum wohligen Dämmerschlaf, dem er sich wohlig zusammengekauert wie ein Embryo im Mutterleib hingibt. Aber mit der Ruhe wird nichts – so viel er dem wärmenden, wandernden Lichtspot auch hinterher robbt – so lange er den Sessel hier und dorthin und wieder anders wohin schleppt. So verzweifelt er sich nach Zweisamkeit sehnt, schließlich gar der Mutter einen Brief schicken will - der Mann findet seinen Platz nicht, keine behagliche Nische im Leben. Weniger kraftvoll kommt Fabien Priovilles Stück über mit seinen reichlich kindischen Gesten als Behrs Herbstzeitlose, obwohl der hochgewachsene Tänzer sich bis aufs Äußerste verausgabt.