Übrigens …

Schwanensee im Dortmund, Oper

Eine Augenweide

Was für ein Anblick! Selten bietet ein Ballett eine derart opulente, hochelegante Kulisse und Kostümierung. Den Mailänder, Pariser oder Berliner Modemachern würden die Augen übergehen. Der Wiener Maler und Bühnenkünstler Daniel Ioan Roman sorgt in der Neufassung von Xin Peng Wangs Schwanensee-Inszenierung für ein überwältigend fantasievolles Ambiente, das in kongenialer Weise das Gestern und Heute des „Balletts aller Ballette“ miteinander in Einklang bringt – ganz wie es Wangs Intention entspricht, den realistischen Akten I und III die weitgehend unberührte Originalchoreografie von Marius Petipa in den märchenhaften „weißen“ Schwanen-Akten gegenüberzustellen.

Das Herz geht jedem Ballettfreund über, wenn tatsächlich die „klassischen“ 24 Schwäne in blütenweißen, wippenden Tellertutus in langer diagonaler Reihe aufgefädelt, hufeisenförmig oder rechts und links aufgereiht in malerischen Posen verharren, in kleinen Gruppen auf Spitze trippeln, rückwärts auf einem Bein hüpfen, nahezu lupenrein synchron hoch springen und sich drehen oder grazil die Arme wie Flügel schwingen. Ein Bravo dem unermüdlichen Ballettmeister Zoltan Ravasz!

Eine vornehme Hofgesellschaft findet sich im ersten und dritten Akt im spiegelnden Ballsaal des Schlosses mit avantgardistisch geschwungener weißer Balustrade hinten ein – die Protagonisten in erlesenem, extravagant geschnittenen Habit, junge Damen in aparten paillettenbesetzten Glockenröckchen oder aktuellen himbeerfarbenen und grünen Cocktailkleidern. Fantasiegestalten stehen und schweben dekorativ auf Papyrusaufbauten oder mit hoch aufragenden chinesischen Schirmen.

Wie aus einem Guss ist Christian Baiers Dramaturgie, genial seine Idee, anstelle von Siegfrieds Mutter ihm eine liebenswerte, aber offenbar „bürgerliche“ Freundin an die Seite zu stellen und auf einen Vater-Sohn-Konflikt zu fokussieren, wobei – ebenso raffiniert wie psychologisch einleuchtend – der strenge Vater zum bösen Zauberer Rotbart mutiert, der Odile als seine favorisierte Braut für den Sohn präsentiert – und triumphiert, als dieser der Verführungskunst der eleganten schwarzen Dame erliegt. Da nützen auch die Warnungen von Freund Benno nichts. Wie vom Donner getroffen stürzt Siegfried zu Boden, als in seiner Fantasie das Bild der weißen Schwanenkönigin erscheint. So ergreifend final ist dieser Moment, dass im Premierenpublikum nach einem Moment entsetzter Starre frenetischer Schlussapplaus aufbrandete – von GMD Jac van Steen mit nachsichtigem Lächeln quittiert. Denn das köstlichste Bonbon des Abends stand ja noch bevor: herzzerreißend auf der leeren, pechschwarzen Vorderbühne der Abschied von Odette und Siegfried, märchenhaft elegisch die letzten Tänze der Schwäne, die in einer riesigen hängenden Spiegelschräge auch noch gedoppelt werden. Kein See, in dem das unglückliche Paar ertrinkt. An gebrochenem Herzen stirbt Siegfried so einsam, wie man ihn in der ersten Szene sah. Und diesmal hat glücklicherweise Tschaikowsky das letzte Wort und nicht, wie in Wangs erster Fassung, die Elegie für Streichorchester aus dessen Schauspielmusik für Hamlet.

Noch ein „Wunder“ geschah an diesem Abend: Siegfried wird, wie vor acht Jahren, von Mark Radjapov getanzt. Aber welche Eleganz, Ausdruckskraft, subtile Melancholie legt er nun in Rolle! In nichts steht ihm auch die stupende Technikerin Monica Fotescu-Uta diesmal nach. So viel freier ist ihre Odette, so viel böser ihre Odile. Arsen Azatyan sprüht nun vor Temperament, Lausbubenschalk und freundschaftlicher Wärme. Perfekt fügen sich die „neuen“ Solisten ein. Andrei Morariu ist ein furchterregend eiskalter Vater/Rotbart (in Siegfrieds letztem Fluchtversuch in neunfacher Gestalt) und Jelena-Ana Stupar Siegfrieds zierliche Freundin. In den Nationaltänzen fallen besonders angenehm auf Esther Perez Samper als rassige Spanierin sowie Alessandra Spada und Denise Chiarioni als feurige Ungarinnen. Immer wieder beeindruckend ist die Garde exzellenter Herren dieser Kompanie.

Bei all diesem „non plus ultra“ fallen die Einförmigkeit von Wangs Vokabular, ein paar Patzer bei den Solisten der insgesamt hervorragend musizierenden Dortmunder Philharmoniker und einige wenige Verständigungsschwierigkeiten zwischen Bühne und Graben bei der Premiere kaum ins Gewicht.

Das Ballett Dortmund hat sich mit diesem Schwanensee in die erste Reihe der klassischen Kompanien auf deutschen Bühnen getanzt. Um so mehr ist diese Leistung zu respektieren im Vergleich mit der mutigen, ebenfalls eindrucksvollen Aufführung der ersten Fassung, mit der Xin Peng Wang im Februar 2005 am Beginn seiner Dortmunder Direktion das Dortmunder Publikum begeisterte.