Die getanzte Reizüberflutung
Beim Düsseldorfer „Ballett am Rhein“ ist es inzwischen Sitte, dem Publikum in nur einem Ballettabend derart hochkarätig aufzutischen, dass man am Ende fast übersättigt abwinkt. Das Programm b.12 bildet da keine Ausnahme. Gezeigt werden Choreographien von Antoine Jully, Hans van Manen, Martin Schläpfer und George Balanchine. Zumindest um die drei letzten Namen würden andere Compagnien eine ganze Saison zimmern.
Für den Aperitif ist in diesem Fall Antoine Jully zuständig. Jully, gleichzeitig Tänzer im Ensemble des Rheinballetts, präsentiert mit Inside in Düsseldorf seine erste Uraufführung. Sein hochgestecktes Ziel: Tänzer wie Farben eines Gemäldes zu arrangieren und Musik, Malerei, Tanz und Video miteinander zu verschmelzen. Das ist freilich nicht neu – und gerade in einer Stadt wie Düsseldorf mit avantgardistischen Institutionen wie Tanzhaus NRW, FFT, Kunstakademie und Kunst im Tunnel auch gewagt, vor allem, wenn man Choreograph und Videokünstler in Personalunion ist. Das Ergebnis funktioniert auch nur bedingt. Die Videos sind verspielt, durchaus reizvoll, ihr Einsatz reicht aber kaum über ein dekoratives Element hinaus. Lässt man den ganzen interdisziplinären und wenig überzeugenden Überbau weg, bleibt indes noch ein durchaus lustvolles und kurzweiliges Tanzstück übrig. Antoine Jully findet zum quirligen Capriccio für Violoncello und Orchester von Jan Novák ebensolche Bewegungen. Er mixt unter seine klassisch inspirierte Bewegungssprache einen ordentlichen Schuss Show und Revue. Heraus kommt ein lustvolles, heiteres Sommerballett mit roten Videoherzen und bunten Gymnastikbällen, süffig und farbig wie ein Apérol Spritz.
Zum Höhepunkt des Abends geriet indes das Tanzstück The Old Man and Me von Hans van Manen aus dem Jahr 1996. Das kurze Pas de deux erzählt komisch und tragisch zugleich von einem Paar, dessen Lebenswege trotz aller Sehnsucht, Enttäuschungen und Verbundenheit am Ende doch auseinanderdriften. Die Musik: denkbar kontrastreich. Hans van Manen lässt auf den titelgebenden Song von J. J. Cale Igor Strawinskys Circus Polka und das Adagio aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur folgen. Auf der Bühne stehen die wunderbare Marlúcia do Amaral und Düsseldorfs Ballettchef Martin Schläpfer, der an der Rheinoper erstmals als Tänzer zu erleben ist. Die beiden geben ein formidables Paar ab. Marlúcia do Amaral umgarnt ihren Bühnenpartner in ebenso fließenden wie eigenwilligen Bewegungen. Schläpfer reagiert verschmitzt, erst kaum merklich, bis sich beide nach einer sehr komischen Slapstick-Einlage zu einem schmerzvollen Abschiedstanz zusammenfinden. Amaral und Schläpfer verwandeln The Old Man and Me zu einer hinreißend poetischen Elegie auf das Zerbrechen einer großen Liebe, von der nichts weiter übrigbleibt als eine leere Parkbank auf einer weiten Bühne.
Nicht minder stark wirkt Lontano von Martin Schläpfer auf die gleichnamige Musik von György Ligeti. Die Choreographie nimmt den fließenden Duktus von Ligetis Musik passgenau auf und ist in Kreisform angelegt: Aus zwei Dreiergruppen entwickeln sich diverse Soli und Pas de deux’, die schließlich wieder in die Dreierkonstellation des Beginns münden. Schläpfer, der seine auch in diesem Stück ausdrucksstarken Tänzer zu immer neuen, skulpturalen Bildern formt, ist in Lontano weit näher an einer Verschmelzung von darstellender und bildender Kunst, als es Jully in seinem technisch aufgerüschten Inside je ist.
Den Abschluss des Abends bildet die berühmte Choreographie Agon von George Balanchine, und das vor allem, weil Martin Schläpfer sein Lontano als geistesverwandtes Gegenstück zu Agon begreift. Die Gegensätze und Parallelen sind tatsächlich frappant: Auch Agon endet wie es begann: mit vier Tänzern. Wo Ligetis Musik fließt, arbeitet Strawsinkys Agon-Komposition mit Struktur und Rhythmus. Dennoch fällt es schwer, am Ende eines so reichen Ballettabends noch genügend Konzentration für die Komplexität des Duos Balanchine-Strawinsky aufzubringen. Schade, denn das Rheinopernballett stellt sich mit Verve auch dieser Herausforderung. Doch die stupende Elastizität der Tänzer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die pure Bewegungssprache von George Balanchine in ihrer verkapselten Emotionalität heute nicht mehr so unmittelbar erschließt, sondern im Vergleich zu den vorausgegangenen Stücken sonderbar spröde wirkt.
Last but not least: Es spricht für den Anspruch und den Stellenwert des Ensembles, dass die Musik zu einem solchen Ballettprogramm live gespielt wird und nicht – wie bei mehrteiligen Tanzabenden leider häufig üblich – von CD kommt. Und die Düsseldorfer Symphoniker setzen unter der Leitung von Dante Anzolini die große Bandbreite der geforderten Musik zudem stilsicher wie farbenreich um.