Onegin im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Russische Seele und politische Ranküne

Die diesjährigen Ruhrfestspiele in Recklinghausen fokussieren auf Russlands aktuelle Kulturszene. Im Osten was Neues: Von den fernen Tagen des russischen Theaters in die Zukunft heißt das Motto. Naheliegender Weise repräsentiert Boris Eifman den zeitgenössischen Tanz. Sein Onegin nach Alexander Pushkins Versepos, 2009 in New York uraufgeführt, tourt ohnehin in diesem Jahr durch Europa (zum Beispiel im Oktober in Schweinfurt). Mit John Crankos Ballett oder Peter Tschaikowskys Oper Eugen Onegin hat diese spannende, dynamische Tanzshow im Stil der West Side Story fast nichts gemein.

Eifmans Choreografie beginnt da, wo die Liebestragödie eigentlich endet, bei der Geburtstagsparty für Tatjana im Fürstenschloss: Fürst Gremin, der in Tschaikowskys Oper die Liebe zu seiner Gemahlin in einer der berückendsten Arien der Musikgeschichte besingt, ist hier ein zwielichtiger blinder General, offensichtlich einer der Putschisten im sogenannten Moskauer Augustputsch von 1991, der den Zusammenbruch der Sowjetunion besiegelte. Dokumentarische Filmaufnahmen flimmern zu Beginn des getanzten Polit- und Liebesdramas über eine runde Mattscheibe auf der Bühne.

So verquickt Eifman ein Kapitel der neueren politischen Geschichte seiner Heimat mit Pushkins romantischer Dichtung. Die St. Petersburger Vantov-Brücke im Bühnenhintergrund ist Symbol der Verbindung von Gestern und Heute. Welten kollidieren – die bunte, unbefangene Landjugend und die schwarze Horde um den General - russische Seele und politische Ranküne. Nachdem Gutsherr Onegin die Liebeserklärung der jungen Tatjana zurückgewiesen hat, flirtet er mit ihrer Schwester Olga. Im handfesten Kampf ersticht Onegin Olgas Verlobten Lensky. Entwurzelt irren die Schwestern durch die Nacht, geraten in eine finstere Spelunke, wo sich offensichtlich der gesellschaftliche Untergrund zusammenrottet. Tatjana wird vom General abgeschleppt und zu seiner schönen Vasallin gestylt. Als Onegin sie an der Seite seines einstigen Freundes wiederfindet, entbrennt beider Liebe zu einander. Mit gezücktem Messer geht der General auf den Rivalen los. Verzweifelt stürzt sich Onegin in die Klinge. Brutal zerrt der General Tatjana von dem sterbenden Geliebten zurück in seine eiskalte Nachtwelt. In einem Epilog sieht man Onegin einen Brief schreiben – an Tatjana in Erinnerung an ihren Liebesbrief vor Jahren? Von allen Seiten segeln Papierblätter um den Einsamen….

Ebenso wie Cranko verwendet auch Eifman in seinem (konservierten) Musikarrangement Kompositionen von Tschaikowsky, verzichtet aber ebenfalls, jedenfalls weitgehend, auf dessen Eugen Onegin. Nur zweimal klingt Tatjanas Briefszene an und kurz die Arie des Fürsten Gremin. Dramatik und Lyrik bieten Ausschnitte aus dem b-Moll-Klavierkonzert, einem Schwanensee-Walzer und sinfonischen Dichtungen, teilweise nachempfunden von dem Geiger Alexander Sitkovetsky. Dazwischen dröhnt fetzige Rockmusik. Der Unterhaltungswert des zweistündigen Abends ist enorm, Tempo und Power reißen mit. Die fantastischen jungen Petersburger Tänzer beherrschen gleichermaßen Modern Dance, Jazz Dance und halsbrecherischen Kampfsport.