Übrigens …

Ruß im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Das lange Lachen über den Schuh

Ruß – das war bis in die 60er Jahre hinein in der Region an der Ruhr das Schreckgespenst für Frauen und Männer, die weiße Wäsche schätzten. Ruß setzte sich überall ab, ein Synonym für Dreck, Schmutz, Altes, aber auch für Schwerindustrie und die bergmännische Solidargesellschaft. Wenn also eine amerikanische Choreographin ihr erstes abendfüllendes Handlungsballett Ruß nennt, weckt sie bestimmte, aber auch klischeebesetzte Assoziationen. Diese werden zunächst bei dieser Paraphrase über das Tanzmärchen Aschenputtel (Cinderella) auch bedient. Die (schwer!) arbeitende Männerriege bewegt sich mit flottem Tempo als Show- oder Musicalcompany, Alina Köppen reagiert als von der Stiefmutter kujonierte Clara fröhlich fegend auf ihre familiäre Ablehnung. Ruß legt sich auf Gesichter und Kleidung. Man bekommt diese Flecken einfach nicht weg…

Über den Köpfen aller hängen rund 50 Eisenkörbe – Relikte aus der Waschkaue. Geschickt werden diese typischen Pütt-Stücke von Bühnenbildner Jürgen Kirner in die Szenen einbezogen. Dick aufgetragen wird dann allerdings beim eleganten Walzer im Haus des Großindustriellen, dessen smarter Sohn sich ausgerechnet in das „rußige“ Außenseiter-Geschöpf verguckt. Denn dieser Ballraum wird von schwarzer Kohle eingerahmt… Bahnt sich da eine glückliche Beziehung zwischen „oben“ und „unten“ an, wird die soziale Hierarchie in diesem Fall über den Haufen der Etikette geworfen? Das lässt Bridget Breiner offen – wie vieles andere auch in dieser „Geschichte von Aschenputtel“, wie es im Untertitel heißt. Denn die mit einem Dreijahres-Vertrag ausgestattete Choreographin, Nachfolgerin des fast schon legendären Bernd Schindowski am Musiktheater im Revier, wendet sich im Schlussdrittel einer weiteren Frau zu – und hier wird es wirklich spannend. Denn der individuelle, analytische und psychogrammatische Blick gilt Stiefschwester Livia, die eigentlich dem reichen Macho J. R. Prince zugedacht ist, von diesem jedoch unbeachtet bleibt. Livia entäußert sich, legt Herz und Seele sowie vor allem ihre Sehnsuchtshoffnungen rigoros offen. Und wie im „richtigen“ Märchen erscheint auch einer der Arbeiter und tanzt mit ihr in die scheinbare Freiheit des Himmels über der Ruhr… Dieser Seitenblick wird zum Hauptgang des unterhaltsamen Abends, der jedoch nie tief unter die Haut geht. Dazu wirkt der gesamte Ablauf zu rußgereinigt, zu glatt, zu lebensfern und in gewisser Weise naiv.

Das Ballett von Bridget Breiner nimmt aber hohe Fahrt auf, wenn nicht Dreivierteltakt das Musikgeschehen beherrscht, sondern wenn Akkordeonist Marko Kassl als live-Beitrag blitzende, krachende, aber auch poetische Schrägheit ins Geschehen hinein wehen lässt. Immer dann, wenn eine emotionale Ebene jenseits der Aschenputtel-Versatzstücke angepeilt und auch erreicht wird, schultert der hochvirtuose Kassl Akkordeon beziehungsweise Bandoneon (früher „das“ Instrument der Bergleute!). Da wird dieser Blick auf die Graue-Maus-Karriere authentisch und bewegend. Auch die Stiefschwestern besitzen, selbst wenn sie von der denkmalhaft-strengen Mutter am kurzen Zügel gehalten werden, ein Recht auf Eigenleben. Das differenziert Bridget Breiner mit dieser Aschenputtel-Variante, die minutenlang vom Premierenpublikum gefeiert wurde.

Großer Tanz, dynamische Kombinationen, ein Stilmix aus Klassik („auf Spitze“) und Pop, körperbetonten Parabeln und Symbolen – so läuft Ruß fehlerlos wie ein Uhrwerk ab. Man erlebt starke, intime Momente. Dafür garantieren Alina Köppen als unbedarft-harmlose Clara, Kusha Alexi als sich befreiende, zum Finale lachend ihren „falschen“ Schuh aufhebende, gar nicht „böse“ Livia, Min-Hung Hsieh als verzweifelnder Vater, Junior Demitre als über die Bretter wirbelnder Prince und Maiko Arai als weitere Schwester (Sophia).

In Ruß spiegeln sich nur bedingt das Ruhrgebiet und seine fast 200jährige Sozialgeschichte mit ihren Brüchen, Grausamkeiten und unternehmerischen Erfolgen. Vielmehr beweist Breiners Sicht, dass Ruß uns alle formt und prägt. Mit diesen Umfeld- und Charakter-„Flecken“ lebt wohl jeder – so oder so. Mit anderen Worten: Aschenputtel ist überall, weil jeder von uns ein Stück von ihm in (an) sich trägt.