b.14 im Theater Duisburg

Der Schwan im Kopf

Martin Schläpfers Ballettabende an der Rheinoper gleichen raffinierten Mosaiken: Setzt man sie zusammen, erhält man ein einen feinen Überblick über den zeitgenössischen Tanz von seinen Wurzeln bis zur Gegenwart. Das Programm „b.14“ fügt dem bereits entstandenen Bild eine interessante Facette hinzu und präsentiert vor der Uraufführung von Martin Schläpfers Johannes Brahms – Symphonie Nr. 2 drei Choreographien von Antony Tudor und Frederick Ashton.

Von Antony Tudor tanzt die Compagnie ein Pas de deux aus The Leaves are Fading sowie das kurze Handlungsballett Jardin aux lilas. Beide Stücke präsentieren Tudor als feingliedrigen Psychologen, der Gefühlsregungen oder seelische Abgründe in kleinste Handbewegungen zu stecken weiß. Beim Ballett am Rhein sind beide Stücke gut aufgehoben. Mit leichtem, fast ätherischem Duktus tanzen Se-Yeon Kim und Marcos Menha das elegante Pas de deux aus The Leaves are Fading von 1975, eine poetische Studie zwischen Mann und Frau, die wie eine beiläufig beobachtete Szene vorübergezogen ist, kaum dass man sie erblickt hat. Der Jardin aux lilas von 1936 speist sich aus artverwandtem Bewegungsmaterial, beschreibt aber eine konkrete Handlung. Im Zentrum des Stückes steht Caroline, die im England um 1900 aus Standesgründen einen Mann heiraten muss, den sie nicht liebt und von ihrem Liebhaber Abschied nimmt. Das Sujet mutet überholt an. Umso überraschender ist es, wie schadlos und frisch Tudors Tanz die Zeit überdauert hat. Die Enttäuschungen, die Schmerzen, die sich in Gesten, Blicken, einer Drehung des Kopfes bemerkbar machen, wirken kein bisschen alt, und es spricht für die Qualität des Ballett-Ensembles, dass sie diese so pointiert über die Bühne bringen.

Ganz anders ist Frederick Ashtons Five Waltzes in the Manner of Isadora Duncan von 1976. Im Vergleich zu Tudors beherrschten Emotionen gibt sich die Choreographie scheinbar unbändig. Die weit ausladenden, expressionistischen Gesten der Tänzerin, irgendwo angelegt zwischen Stummfilmdiva und Tanzikone, das Hüpfen über die Bühne, das wirbelnde Spiel mit dem Schleier wirkt zwar einerseits wie eine explosive Befreiung aus dem klassischen Bewegungsvokabular, andererseits aus dem heutigen Blickwinkel aber auch extrem bis unfreiwillig komisch. Camille Andriot füllt ihre Rolle allerdings hervorragend aus. Mit Verve und großem Einfühlungsvermögen spürt sie der Aura von Isadora Duncan nach und hält diese formidable Leistung bis zum Schlußapplaus durch.

Den Abschluss – und Höhepunkt des Ballettabends - bildet Martin Schläpfers Uraufführung Johannes Brahms – Symphonie Nr. 2. Nach dem Deutschen Requiem und den Ungarischen Tänzen setzt sich der Ballettchef der Rheinoper erneut mit Brahms auseinander. Einige Merkmale von Ashton und Tudor kehren hier in Schläpfers eigenwilliger Übersetzung wieder: Sonderbar beherrscht wirken die ersten drei Sätze der Sinfonie. Immer wieder lässt Schläpfer sein Ensemble für Sekunden in einer Bewegung verharren, lang gestreckte Beine bestimmen so häufig wie nie die einzelnen Bilder. Das Unbändige bricht sich erst im vierten Satz mit hohen Sprüngen und ein paar Rollen vorwärts Bahn. Blickfang und Höhepunkt der Choreographie ist der dritte Satz, für den Martin Schläpfer ein wundersames, fesselndes wie bewegendes Solo für Marlúcia do Amaral entwickelt hat. Zu den leichten Klängen von Brahms Scherzo bewegt sich die Tänzerin wie in Zeitlupe, verwandelt sich dabei von der Tänzerin zur Puppe zum Menschenaffen und wieder zurück zur Tänzerin. Am Ende des Solos, als die Musik schon längst verklungen ist, zieht sie wie eine verlassene Primaballerina gefühlte Ewigkeiten auf Spitze ihre Bahnen über die Bühne.

Martin Schläpfer will diese Choreographie zu Brahms 2. Sinfonie als Beschäftigung mit den großen, romantischen Tschaikowsky-Balletten verstanden wissen und gibt im Programmheft zu Protokoll, sein neues Tanzstück sei „in der Auseinandersetzung mit der Essenz von Schwanensee sein Schwanensee“. Ihm bis hierher zu folgen erfordert allerdings ein ausgefuchstes Wissen über die Entwicklung des Tanzes. Und – abgesehen vom Schlussbild, das einen Tänzer mit Gummi-Schwänen in einem „See“ aus Tänzern zeigt – einigermaßen viel Phantasie. Was an Schläpfer immer wieder fasziniert ist seine überraschende Frische. Seine Tanzstücke sehen nie so aus, wie man es zu der vertanzten Musik erwarten würde – auch wenn man schon einige Schläpfer-Stücke gesehen hat. Seine Choreographien zwingen einen, die Musik neu zu hören, den Tanz neu zu sehen und zu erleben. Dafür ist Johannes Brahms – Sinfonie Nr. 2 ein weiteres Beispiel. Und ein besonders gutes noch dazu.