Dream Land – How Things Go im Düsseldorf, Forum Freies Theater

Schwierige Erneuerung verschütteter Beziehungen

Es war im Jahre 2004. Der belgische Regisseur und Choreograph Ives Thuwis hatte gerade ein traumatisches Erlebnis zu verkraften gehabt – ein achtzehnjähriges Mitglied eines seiner Tanzensembles war freiwillig aus dem Leben geschieden. Hatte der Welt „adieu“ gesagt. Und so hieß Thuwis‘ neue Produktion, die er mit einer Gruppe von Jugendlichen für ein erwachsenes Publikum erarbeitete: adieu. Sie gastierte in fünf verschiedenen Ländern, wurde als erstes Jugend-Ensemble zur Tanzplattform Deutschland eingeladen, sie errang zahlreiche Preise. Die Selbstmordgedanken Heranwachsender wurden thematisiert – und der Zukunftsglaube der jungen Menschen. Es wurde ein spritziges, ideenreiches Feuerwerk von pubertären Freuden und Sorgen, von jugendlichem Übermut und Depressionen: temperamentvoll und rasant, melancholisch und voller Lebensfreude.  Der Schwerpunkt lag nicht auf exaktem Drill und hundertstelsekundengenauer Choreographie: Die sportlichen Höchstleistungen der Jugendlichen wurden getragen von riesigem Engagement, Freude am Spiel, uneingeschränkter Identifikation - und uneingeschränktem Vertrauen: Immer wieder ließen sich die Tänzer und Tänzerinnen rückhaltlos fallen von hohen Leitern und Podesten – unzählige Arme fingen sie auf. „Diese Jugendlichen, das wissen wir, werden zu stabilen, positiv denkenden Menschen heranwachsen“, schrieb ich damals.

Es ist leicht, solche steilen Thesen in den Raum zu stellen – sie wird ja nie jemand überprüfen können. Doch welch ein Theaterglück: Knapp zehn Jahre später haben sich sieben der damaligen Jugendlichen aus dem adieu-Ensemble erneut getroffen, um mit dem diesmal auch auf der Bühne agierenden Ives Thuwis, der nun nur gleichberechtigtes Mitglied des Kollektivs ist, zu untersuchen, was geblieben ist, was sich verändert hat, wie man zehn Jahre später noch miteinander arbeiten kann. Und um erneut eine choreographische Produktion zu erarbeiten.

Sechs der sieben Ensemble-Mitglieder sind dem Theater treu geblieben. Sie haben in der Kaderschmiede des postdramatischen Theaters, am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen, oder am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin und anderswo studiert, sind Schauspieler, Performer, Regisseure oder Choreographen geworden. Manche haben wir bereits in ersten eigenen Produktionen am Forum Freies Theater erleben dürfen. Alle haben starke Persönlichkeiten, auch eigene künstlerische Handschriften und Positionen entwickelt. Vor neun Jahren hatte ich meine Aufmerksamkeit u. a. auf Tümay Kilincel gerichtet, hatte begeistert notiert, wie diese eher scheu und zurückhaltend wirkende Jugendliche plötzlich wie ein Vulkan in türkischsprachige Schimpfkanonaden ausgebrochen war. Heute ist von Scheu und Zurückhaltung keine Spur mehr: Insbesondere in der anschließenden Diskussion schwingt sich die Performerin, die inzwischen eigene Projekte und Solo-Performances erarbeitet hat, fast zu einer Art Ensemblesprecherin auf. Stabile Persönlichkeiten mit höchst individuellen, bewusst dem Mainstream entgegen arbeitenden künstlerischen Positionen können auch eckig sein: Die Untersuchung, wie man noch miteinander zusammenarbeiten könne, artete, wie alle acht Performer in sympathischer Offenheit zugeben, eher in die Frage aus, ob man noch miteinander zusammenarbeiten kann. Die Proben bestanden, wie man hört, aus sechs Wochen Ratlosigkeit und Stress.

Das wirkt sich naturgemäß auf das Endergebnis aus. Und doch: Man hat sich zusammengerauft. Genau diesen Prozess reflektiert die Inszenierung: Ein Dream Land haben die acht wohl nicht gefunden, aber How Things Go können wir Zuschauer erleben. Die Ensemblemitglieder stellen sich und ihre Lebensläufe vor – dass sie dabei nicht sich selbst, sondern jeweils eine(n) ihrer Kolleg(inn)en portraitieren, merken wir erst nach und nach: Auch das dürfte dem erforderlichen Team Building Prozess geschuldet sein, hält den Zuschauer aber eine Weile am Raten. Sprich: beschäftigt. Denn lange zeigen uns die Akteure eben das, was sie im Probenprozess erlebt haben: That things do not go anymore. Das wird in der Eingangsszene noch sehr eindrucksvoll angedeutet: Die Performer, mit Ausnahme des sich auf einen Schrubber stützenden und teilnahmslos beobachtenden Ex-Chef Ives Thuwis, sind mit phantasievollen Masken wilder Tiere unkenntlich gemacht und treten einer nach dem anderen ans Mikrofon, während im Playback-Verfahren Henry Purcells Arie aus dem „King Arthur“ gesungen wird: „What power art thou, who … hast made me rise unwillingly and slow … Let me, let me freeze again to death“, singt der Genius der Kälte. Das Wiedererwecken alter Liebe stößt auf Widerstand und Unwillen.

Und so macht denn jeder erstmal sein eigenes Ding - mit eigenen Choreographie-Ideen. Als Solo oder unter Zuhilfenahme von ein paar anderen Einzelgängern. Mineralwasserflaschen auf dem Kopf zu balancieren, passt zumindest zu den afrikanischen Masken; zu Marianne Rosenbergs Er gehört zu mir ein wenig Goodbye zu winken, mag das alte adieu-Thema ebenso ironisieren wie die heutige Distanz zwischen den ehemaligen Freunden von vor neun Jahren; ein Zwei-Männer-Kabarett wirkt eher peinlich, und die Imitation von männlichen Macho-Gesten durch eine Frau greift wieder die Distanz auf. Manches ist ganz witzig, doch insgesamt wirkt das alles ein wenig unglücklich, ein wenig banal und vor allem: völlig unzusammenhängend – gut, dass wir mit Raten beschäftigt sind (s. o.); sonst würden wir uns langweilen. Dann werden – ebenfalls mit hübscher Ironie – klassische Statuen nachgestellt. Einzelne wohlgestaltete Herren der (künstlerischen) Schöpfung, später Gruppenbilder.

Gruppen? Ja, nach und nach scheint sich das Ensemble zu finden, und mit ihm findet auch der Zuschauer etwas: nämlich Gefallen am Stück. Es wird getanzt, nach allem, was man vorher sah, weiß man nicht so recht: Tanzen die sieben oder acht Performer nun zusammen oder jeder für sich? Langsam, Stück für Stück findet die Gruppe zusammen. Nun fallen die Hüllen: In Unterwäsche wirken die wohlgestalteten Körper der jungen Menschen harmonisch, aber auch verletzlich. Man setzt sich einander aus, ohne zu mauern; gegenseitiges Vertrauen entsteht – also das, was uns vor neun Jahren bei adieu so fasziniert hatte. Eine Performerin erzählt über ihre Beziehungen zur Gruppe: mit wie vielen der Kollegen war sie befreundet, mit wie vielen betrunken, mit wie vielen hat sie geschlafen? Das Beziehungsgeflecht drängt wieder an die Oberfläche. Schöne, gemeinsame Skulpturen werden gebildet. Can’t live if living is without you plärrt vom Band – der wunderschöne Popsong ist wohl der Gipfel der Ironie, wenn man von der schwierigen Probenarbeit, von dem konfliktreichen (Wieder-) Findungsprozess des Ensembles weiß. Aber er unterstreicht die wiedergefundene Harmonie.

Die Gesichter der Performer aber bleiben unbeweglich, ernsthaft und traurig. In verschiedene Richtungen gehen sie auseinander. Die jungen, selbstbewussten Menschen werden wir auf ihrem Werdegang weiter verfolgen. Jedoch den einen hier, die andere dort. Tolle Persönlichkeiten jedenfalls sind sie geworden.