Deca Dance im Essen, Aalto-Theater

Eine Hommage an das Leben

Jede Compagnie profitiert eigentlich davon, wenn ein international anerkannter, innovativ tätiger und sich auf die Bedingungen einstellender Choreograph am eigenen Haus arbeitet und etwas Neues einstudiert. Das war auch der Fall beim Aalto-Ballett, wo einer der wichtigsten Tanzerneuerer aus dem Mittelmeerraum seinen Antrittsbesuch absolvierte. Deca Dance nannte sich die mehrstimmige Collage, die Ohad Naharin von der weltberühmten Batsheva Dance Company aus Israel für den Spielplan der Essener Bühne beisteuerte – als Vitaminstoß für das Ensemble, aber durchaus auch für das Publikum. Dieses feierte die Aalto-Truppe und den Gastchoreographen. Naharin, Jahrgang 1952, debütierte als Tänzer selbst einst bei der Batsheva Company, deren Leitung er ab 1990 übernahm – ein großer Glücksfall. Seitdem sind viele Choreographien entstanden. Denn Naharin infiziert die Tänzerinnen und Tänzer jedes Mal mit dem überrumpelnden, überraschenden, temperamentvollen und optimistischen Vitalvirus der prinzipiellen Körperbewegung. Alles ist Tanz, könnte man als Motto dieses Künstlers herauslesen. Denn in der Bewegung vereinigen sich Gefühl und Anmut, Herz und Seele, Raffinesse und Konzentration, Disziplin und Kommunikation. Natürlich gibt es Stärkeres und Schwächeres – aber der Geist dieses Ensembles reißt mit. In jeder Phase.

Denn die Stücke, die aus dem Batsheva-Repertoire stammen und die er mit dem wunderbar flexiblen und erstaunlich virtuosen Aalto-Ballett als Reminiszenz an die eigene Tanzkultur  und –sprache entwickelte, kennen kaum Stillstand oder Ruhephasen. Naharin wirbelt mit dem 22-köpfigen Team über die Bühne, als wäre er das xte Mal in Essen aktiv. Seine Choreographien mischen Minimalismen der Körperschwingungen und raumgreifende Gruppendynamik, Humor und Eleganz, Bodengymnastik und Sprungkraft, Himmel und Hölle des musikalisch belebten Balletts. Ob neun Damen oder fünf Männer, ob die gesamte Compagnie oder eine Solistin (wie im Finale) die meist völlig leere, nur selten von Lichtbündeln (oder einem Halbrund aus Stühlen) gestaltete Bühne beherrschen – auf das Grundthema kommt es bei dem aus einem Kibbuz stammenden Tanzdirektor aus Israel an. Und das ändert sich kaum im Laufe des Programms. Immer treibt er die Solisten und das Corps an, immer lässt er rotieren, immer hört er in die Geheimnisse des Spiels hinein: Der „homo ludens“ ist daher der geistige Vater von Naharins modernem Ballettmosaik, das religiöse Rituale ebenso zitiert wie die wilde Lust am Tanzabenteuer oder den Dialog zwischen den Partnern.

Ein Höhepunkt ist natürlich auch in Essen ein Abschnitt, bei dem die Aalto-Profis gut zehn Premierengäste auf die Bühne bitten – gemeinsam tanzt man Tango oder Cha-Cha-Cha – ein großer, schöner, mitreißender Kollektivspaß. Bemerkenswert ambitioniert gliederten sich die Amateure in die Gruppe ein. Das Ganze: eine Hommage an das Leben. Applaus!

Eben für „Tanz pur“ – Martha-Graham-Schüler Ohad Naharin, der die Körperflexibilität des Ensembles neu und frech herausfordert, um kontrastierende Bewegungsabläufe zwischen innerer Reflektion und äußerer Explosion neu zu figurieren und zu strukturieren, dürfte sich für eine zweite Einladung an die Aalto-Bühne dringend empfohlen haben. Vielleicht verzichtet er dann auf die Zitate seiner früheren Werke (mit wechselnder Musik vom Band) und schafft an diesem Gastort eine neue Produktion. Das Essener Ballett wird es ihm mit größter Hingabe an den fundamentalen „Tanzgott“ danken.