Medea im Copy Shop
Booty Looting – das Plündern der Beute. Der Titel klingt rätselhaft. Wenn Birgit Walter, Ensemble-Mitglied am Schauspiel Köln, das als Koproduzent der neuen Kreation von Wim Vandekeybus‘ belgischer Tanztheater-Truppe Ultima Vez firmiert, zu Beginn im langen weißen Bademantel schwere Säcke in die Mitte der Bühne schleppt, Säcke mit Menschen, die vielleicht tot, vielleicht lebendig sind, wenn also diese Birgit Walter die Säcke schleppt und nach einem herzzerreißenden, langen Schrei in Weinen ausbricht, dann scheint das mit der Beute wörtlich gemeint zu sein: Die Beute scheint aus Lebewesen zu bestehen, die eine menschliche oder tierische Bestie im Kampf erbeutet hat. Doch so ist es nicht.
Jerry Killick, der zweite Schauspieler in Vandekeybus‘ Tänzer-Truppe, den festivalerprobte Theaterzuschauer aus den Performances der Gruppe Forced Entertainment aus Sheffield kennen, erzählt die Geschichte von Joseph Beuys, beginnend mit seinem angeblichen Flugzeugabsturz auf der Krim und endend in einer ausführlichen Beschreibung seiner berühmten Performance in der New Yorker Galerie René Block im Jahre 1974, in der er sich drei Tage lang mit einem Kojoten, einer Triangel, Filzbahnen, Handschuhen und einem Hirtenstock einschließen ließ. „I like America and America likes me“, hieß die Aktion; täglich gab’s die neueste Ausgabe des Wall Street Journal und sonst für Beuys von Amerika nix zu sehen, denn selbst den Weg vom Flughafen und zurück verbrachte er bis über den Kopf in Filzbahnen eingerollt in einem Krankenwagen. Als Hommage an Joseph Beuys werde man jetzt ein Re-Enactment dieser Performance inszenieren, kündigt Killick an, und man habe das ungeheure Glück, dies am heutigen Abend in Anwesenheit der Anthropologin und Künstlerin Birgit Walter tun zu können, die schon die Original-Performance in New York verfolgt habe. Ähem – wie bitte? So alt dürfte Birgit Walter noch nicht sein…
Sie ist noch viel älter. Sie ist Medea, die ihre Kinder umgebracht hat, sie hat in Georges Clouzots L’Enfer, dem unvollendeten Film aus dem Jahre 1964, mitspielen sollen, wobei es einen Eklat gab, der wiederum in einer verschachtelten Geschichte zu der Erzählung über die Motivation Birgit Walters, den Schauspieler-Beruf zu ergreifen, führt und zu einer ganz anderen unglaublichen Story aus dem Familienalbum. Diese Birgit Walter, diese ganz reale Kölner Schauspielerin, wird zu einer zentralen Figur eines Abends, der neben vielem anderem The Life and Adventures of Birgit Walter as an Artist erzählt. Vermutlich steckt irgendwo in diesen Geschichten auch ein Stück wahrer Biographie – das meiste aber ist Fake and Fiction: geplünderte Beute halt, wobei die Beute frühere, wahre Kunstaktionen und Geschehnisse sind, das Plündern das ist, was Vandekeybus und seine Akteure daraus machen.
Was sie daraus machen, ist eine große multimediale Collage. Nein, besser: eine multimediale Collage aus großen künstlerischen Einzelleistungen. Denn der Gesamtzusammenhang ist schwer durchschaubar; immer wieder schälen sich einzelne phantasievolle, interessante Geschichten aus der Collage heraus, aber eine zusammenhängende Erzählung erleben wir nicht. Es wird die Frage nach Echtheit und Authentizität gestellt, die Frage, inwieweit durch Samplings und Re-Enactments Veränderungen, möglicherweise sogar sinnentstellende Veränderungen erfolgen, die Frage, inwieweit unser Gedächtnis verfälscht oder die bewusste Nutzung künstlerischer Freiheiten der Manipulation Tür und Tor öffnet. Ob aber viele Zuschauer diesen Grundgedanken der Performance verstehen, ist fraglich.
Was wir nicht vollständig verstehen, wird zumindest grandios dargestellt. Die Bilder von Beuys mit Hirtenstock, in den Filzumhang gehüllt, sehen täuschend echt aus – bis wir bemerken, dass es ein Besen ist, der aus dem menschlichen Filz-Zelt lugt. Eindrucksvoller, aber ebenfalls eine Verfälschung ist es, dass Jerry Killick als Beuys gleich mit vier Kojoten kämpfen muss – entfesselten Vandekeybus-Tänzern, die zur mitreißenden E-Gitarre von Elko Blijwert ihre menschliche Beute zu reißen versuchen und sich gegenseitig wegbeißen. Diese Tänzer – ein herausragendes Ensemble, aus dem Luke Jessop aufgrund seiner besonderen akrobatischen Fähigkeiten hervorsticht – und diese Musik, mal laut und heulend, mal melodisch, fast immer rockig, bieten uns das gewohnte, aber immer noch faszinierende halsbrecherische, temporeiche Vandekeybus-Spektakel. Dazwischen gibt es reichlich Zeit zum Luftholen während der kleinen von Killick erzählten Anekdoten, und es gibt viel Ironie: Blijwerts Elektrogitarren-Wildwest-Medley, wenn von Birgit Walters fataler Vorliebe für Macho-Alpha-Männchen die Rede ist, die seltsamen Statistiken, die referiert werden: 40 Tage im Jahr verbringen wir mit Suchen; unter Linkshändern gibt es prozentual mehr Serienkiller als unter Rechtshändern etc.. Aber geht es nicht bei der letzten Statistik schon wieder um verzerrte Wahrnehmungen, um Sinnentstellung durch Wiederholungen? Vielleicht war Medea ja Linkshänderin – denn so oft wie ihre Kinder auf oder hinter der Bühne bereits exekutiert wurden, ist sie sicher eine der erfolgreichsten Serienmörderinnen der Geschichte.
In Booty Looting ermordet sie ihre Kinder via Fotokopierer. Sampling, Copying, Re-Enactment ganz modern. Die durch den Druck auf die Glasplatte des Kopierers entstellten Gesichter werden auf die Leinwand im Bühnenhintergrund projiziert. Live dabei, während der gesamten ca. einhundertundzehn Minuten auf der Bühne: der Fotograf Danny Willems. Insbesondere in den Medea-Szenen läuft er zu großer Form auf: Phantastische, ausdrucksvolle Bilder entstehen während der Live-Performance und werden unmittelbar auf der Leinwand gezeigt: Bilder des schmerzverzerrten, blutverschmierten Gesichts der Medea. Die, so sehen wir hinten links, haut sich den Dreck und die rote Farbe ins Gesicht, schminkt sich zurecht, damit auf der Leinwand die furchterregenden, antikisierenden Fotos erscheinen können. Fakes - Bilder, die nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern die eine Kunstaktion ausgebeutet haben. In manchen Teilen war diese Aktion so furios als hätte Medea ihre Kinder ganz in echt umgebracht. Und das Ende, so scheint es, ist Chaos. Oder Erschöpfung.