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Nirgends... wird Welt sein, als innen im Philharmonie Essen

Der Welt abhanden gekommen

Bei vielen Choreographen wäre ein Gastspiel in einer Philharmonie, also nicht im Theater mit seinem Bühnenbildraum, kaum möglich. Bei John Neumeier aber, dem populären Hamburger Ballettstar seit 40 Jahren (!), gibt es bei der Umsetzung von vier Produktionen im restlos ausverkauften Essener Konzerthaus keine Probleme. Diese „weißen“ Ballette von Neumeier benötigen keine (eventuell einschränkenden) Bühnenbilder, kein Dekor – sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „mit sich im Reinen“. Alles konzentriert sich auf die Bewegung, die Körperachsen, die Strukturen im Dreidimensionalen, auf das dramaturgische Miteinander, auf individuelles Profil. Wobei der Amerikaner dieser Tradition und Konvention ein weiteres Moment – und das ist entscheidend für seine Ausdruckskraft – hinzufügt: die Psychologie. Seine Figuren leben aus der Imagination der Situationen heraus – ob Schmerz oder Freude, ob Trauer oder Fröhlichkeit, tödliche Nähe oder ironische Brechung, bei Neumeier treten diese Elemente und Emotionen durch seinen Bewegungskanon auf.

Zwei ältere „Klassiker“ Neumeiers hatte das Ensemble im Gepäck: Kinderszenen (1974, mit der fabelhaft gespielten Musik von Robert Schumann durch den kongenialen Partner am Klavier, Christoph Eschenbach) und Vaslaw (1979, die virtuos und berührende Hommage an den großen Tänzer Nijinski – Musik von Johann Sebastian Bach, erneut von Eschenbach delikat und doch barock als Tanzfolie aufgerollt); dazu paarten sich Neumeiers Petruschka-Variationen (1976) mit dem von ihm gegründeten Bundesjugendballett, in dem an diesem Abend zwei „ältere“ Gäste integriert werden mussten. Hier bestätigt der Choreograph seinen Einfallsreichtum, seine Verwandtschaft zur Groteske und seine Neigung zum tänzerischen Spaß. Mit welcher Verve und mit welchem Einfühlungsvermögen in Strawinskys Musik und die Petruschka-Charaktere die jungen Tänzerinnen und Tänzer das gymnastische Repertoire Neumeiers in fließende Akrobatik transformierten, das war einfach große Klasse. Hier übrigens übernahm der Pianist Christopher Park den Part am Klavier – spektakulär und temperamentvoll.

Zum Schluss seines Abstechers von der Elbe zur Ruhr wartete John Neumeier mit einer Uraufführung auf, die sich nahtlos an die drei anderen Kunst-Tänze anfügte: Um Mitternacht, eine Übersetzung der berühmten Rückert-Lieder von Gustav Mahler in eine dichte, sich bindende und wieder auflösende Menschenlandschaft. Die Seele wird ausgebreitet, wird in den Himmel gehoben und ins Irdische zurückgeholt. Das berühmte „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ oder „Ich atmet’ einen linden Duft“ entwickelt der Choreograph ganz aus der choreographischen (Musik-)Stille heraus. Er behandelt die Lieder (Matthias Goerne als Bariton und noch einmal Christoph Eschenbach als hochsensibler Gestalter am Flügel) mit höchstem Respekt – und doch zaubert er aus diesen melodischen Abläufen und dem Sprachduktus heraus ganz eigene, kreative Windungen und Wendungen, Gruppenbilder und Solo-Balancen. Auch diese Interpretation dürfte in die Neumeiersche Erfolgsgeschichte in Hamburg und an anderen internationalen Orten eingehen und demnächst den Standard markieren. Das große Podium in der Essener Philharmonie wurde zum filigranen Seelen-Olymp – doch das Firmament ist auf Erdenfundament gebaut. Der Mensch ist Neumeiers Medium und zugleich auch Projektion für ein poetisches Panorama der Gefühle. Die Außenwelt wird zumindest für die Dauer des Stückes weggeräumt – nur der innig belebte, psychologisch gesteuerte Tanz steht im Fokus. Das Motto des Import-Programms wird imponierend erfüllt: „Nirgends wird Welt sein, als innen.“ Die bestens austrainierte, jedoch gerade hier durchaus geforderte Compagnie wird mit Jubel über Jubel entlassen.