Wie Suppenküche
Zumindest der Titel macht schon einmal neugierig: Der Angriff der Killergitarren. Wenn man drei Tage zuvor beim Festival tanz nrw bei Ben J. Riepe stundenlang zunehmend gelangweilt einem mittelalten Mann mit einer Handschere zugesehen hatte, wie er unter der stoischen Aufsicht einer Schäferin zwei Schafe schor, versprach der Titel der Performance der deutlich weniger renommierten Kompanie bodytalk jedenfalls mehr Schwung. Die Ankündigung las sich rätselhaft, klang nach bewusst herbei geführter Irritation und verringerte die Neugier keineswegs: Die vier Ladies, die wir auf der Bühne sehen würden, „spielten gar keine Gitarre. Gitarren spielten keine Rolle. Im Schuh-Business kamen sie keinen Schritt voran, der Handel mit ihrer getragenen Unterwäsche ging in die Hose, Nymphentänze waren ein Schlag ins Wasser.“ – Wortspiele beherrschen sie zumindest schon mal, die bodytalker.
Die bestreiten dann vor Beginn der Aufführung eine Einführung, die ähnlich enigmatisch und anarchisch ist wie der Programmheft-Text. Das Stück sei „eine Mischung aus Tanzen, Singen, Spielen – wie Suppenküche“, sagt Yoshiko Waki. Und meint wohl: Alles, was gerade vorhanden ist, kommt rein in den Topf. Dass sie früher einmal mit Johannes Kresnik gearbeitet hat, merkt man weder ihr noch der Performance an – der todernste, politische Anliegen in ausgeklügelte Choreographien verpackende Altmeister des zeitgenössischen Tanztheaters und die fröhliche, sprunghafte, witzige Yoshiko Waki haben scheinbar nichts, aber auch gar nichts miteinander gemeinsam.
Tanztheater, sagt ihr um keinen Deut ernsthafterer Partner Rolf Baumgart, habe unter den Darstellenden Künsten den Vorteil, dass man einfach seine Lieblingsmusik spielen könne. Und so ließe er beim „Angriff der Killergitarren“ sechs oder sieben Songs von „Slade“ spielen, der Glamrock-Gruppe aus den 70ern, zu der man sich schon damals nicht habe bekennen dürfen, wenn man älter als 14 Jahre gewesen sei. Wenn jetzt zum Teil ältere Performerinnen die Songs von Slade interpretierten, bekäme dies eine völlig neue Qualität; man denke gar an Pussy Riot.
Was nun auch wieder maßlos übertrieben ist. Die Mädels aus der Moskauer Erlöser-Kirche sind die letzten, die dem Schreiber dieser Zeilen beim Genuss der Aufführung eingefallen sind, aber vom Trauma des stundenlangen Schafescherens haben Katrin (Schyns), Sylvana (Seddig), Ria (Kesternich) und Suzy (Bartelt) mich auf lustvolle Weise erlöst. Es beginnt auch nicht mit Slade, sondern mit Jacques Dutronc, noch ein paar Jahre älter als Slade, und seinem „Et moi“. Also doch Gitarren. Die Dame mit dem Instrument wird auf einem Kleiderständer in die Manege geschoben; „Muuh“ rufen verschiedene Damen in verschiedene Mikrofone. „Männersache Muuh“ hat der Abend in den ersten Monaten nach seiner Geburt geheißen; allzu feministisch kommt er nicht rüber, aber er spielt lustvoll mit weiblichen Themen. Also zum Beispiel mit dem Verkauf der in ungezählten Lagen unter den höchst attraktiven Klamotten der Damen getragenen Unterwäsche ans Publikum, was weder besonders erotisch noch besonders peinlich wirkt, sondern einfach nur: schräg.
Erotischer sind schon die verschiedenen Arten, Luft aus einem Blasebalg in den Mund zu befördern. Oder der Umgang mit den Schuhen, die man an der Hand trägt – wie war das noch bei Hans-Ulrich Treichel: „Die in der großen Stadt verschwand / Die Schuhe trug sie in der Hand…“ Oder das Cheerleader-Tanzen – stamp your feet als menschlicher Vierfuß – aber nicht als Paar aus dem „Kuss des Vergessens“, sondern als an allen vier Extremitäten Schuhe tragendes Lebewesen.
„I love you more than shoes“, war die schönste Liebeserklärung, die der Unterzeichner je von seiner Lieblingsfrau bekommen hat. Die Abhängigkeit von Schuhen oder vielmehr vom Kleiderständer scheinen die bodytalker selbstironisch zu beschreiben, wenn sie sich inklusive ihrer Klamotten am Kleiderständer aufhängen. Can’t you see what I man she’s a queen, spielt die Gitarrenlady, die längst bei Slade angelangt ist, und endlich wird nun wirklich Carolas Wäsche versteigert; der Name der Hose wechselt, von „Carola sensitiv“ zu „Carola aktiv“ etc; der Modelle sind zahlreich, denn die Dame trägt der Hosen viele, und da sie gut und schlank gebaut ist, trägt das nicht mal auf. Der Schönheitskult wird wieder und wieder beschworen: „Ich möchte sterben, solange ich noch schön bin…“ – da denken wir an den Beginn, die einzige nachdenklich stimmende Passage des Abends: „Es gab eine Zeit, da wollte ich immer und ewig leben. Aber es ist Zeit, dass ich meine Pläne ändere…“
Es ist ein fröhlicher, ein anarchischer Abend, voller Selbstironie, voller witziger Ideen und in der Tat: voller Schwung. Die Tänzerinnen verfügen über beeindruckende sportliche Fähigkeiten und stellen die Beherrschung ihrer originären Kunst mehrfach überzeugend unter Beweis. Dass die Performance in einigen Szenen provozieren soll, vermögen wir nicht zu glauben – aber political correctness ist für die vier Damen und ihre Choreographen ein Fremdwort. Und gerade deshalb macht der Abend Spaß. Gut gelaunt verlassen wir nach einer Stunde die Stätte des Geschehens mit einem Lied von Slade auf den Lippen. Oder mit dem letzten Lied des Abends, das von Waffen handelt, vom vergeblichen Wunsch nach Frieden, und das doch nach so fröhlicher Partymusik klingt wie es 1971 eben üblich war: „Non, non rien a changé“, intonieren unsere vier Freundinnen ein Lied von den Poppies. War da doch ‘ne kritische Aussage in dem Abend? Oder ist das eher Zufall?