Lass deinen Drachen steigen
Das Tanztheater führt bei den in zweijährigem Rhythmus stattfindenden Theatertagen Europäischer Kulturen in Paderborn eher ein Schattendasein. Die Gruppe „The Crystal Cube of Brightness“ aus Sisak, einer kroatischen Kleinstadt gut 50 Kilometer südöstlich von Zagreb, ist jedoch seit vielen Jahren regelmäßig in Ostwestfalen zu Gast und besticht durch sinnliche und ästhetisch bildreiche Tanztheater-Inszenierungen. Auch LetMeGo, die diesjährige Choreographie von Jasminka Petek-Krapljan, überzeugt wieder durch eine hohe Präzision des Bewegungsablaufs und großartiges tänzerisches Können der zehn Damen und drei Herren auf der Bühne. Die fünfzigminütige Aufführung präsentiert einen bunten Bilderreigen rund um das Thema der Liebe und der Partnerschaft; für die Kostüme sorgte der kroatische Modeschöpfer Igor Dobrani?.
Ein Tisch als zentrale Requisite steht gemeinsam mit den später hinzugefügten Kaffeehaus-Stühlen für die Wohnung, für den Ort von Gesprächen, Zusammenkünften und Begegnungen. Gegenstände und Objekte, die hereingetragen oder auf den Tisch gelegt werden, haben eine symbolhafte Bedeutung. Es sind die Frauen vor allem, die gemessenen Schrittes solche Symbole ins Bild rücken: Ein Vogelkäfig, die übliche Metapher für das Eingesperrt-Sein oder auch die Sehnsucht nach Freiheit, enthält allerdings keinen Piepmatz, sondern Fotos, möglicherweise Fotos geliebter Personen. Äpfel auf dem Tisch symbolisieren die Verführung; mit geradezu beschwörenden Bewegungen versucht eine Frau dem Obst seine Zauberkraft zu entlocken. Einige Frauen kokettieren, versuchen mit verführerischen Tänzen die emotionslos an der Peripherie sitzenden übrigen Personen zu beeindrucken. Da gibt es ein gewisses Balzgehabe, erstaunlicherweise eher auf der Seite der Frauen als bei den Männern – nun, bei einer Relation von 3 : 10 müssen die Männer sich möglicherweise nicht allzu sehr bei der Partnersuche anstrengen…
Aber ach – da kommt eine Dame mit einer Kaffeemühle ins Bild. Zuckerstückchen kommen hinzu; an der Mühle wird gekurbelt, der Zucker in den Händen gewendet. Auch eine zweite Frau wird wie die Kaffeemühle auf dem Tisch gedreht, und dann endlich ist der Kaffeetante der Fisch ins Netz gegangen: Endlich liegt ein Mann auf dem Tisch. Nun ja, mit leckerem Kaffee und sonstigem Verwöhn-Aroma lässt sich Adam eine Weile halten, aber schnell merkt er, wenn er einem Heimchen am Herd aufgesessen ist. Dem Herrn der Schöpfung wird ein wenig langweilig in der täglichen Familien-Mühle. Die Weiber gehen zum Kaffeeklatsch; dort wird die Diskussion auch schon mal etwas lebhafter, und die Zuckerstückchen fliegen hin und her – die Männer werden eben nicht nur durch den Kakao gezogen. Zickenkrieg gibt’s auch, kurze konfrontative Situationen zwischen den Damen auf der Bühne, Konkurrenzdenken und Eifersüchteleien, eingeschnappte Reaktionen: wusch, wird der Zucker mit einer heftigen Handbewegung vom Tisch gefegt. Ein paar Galanterien der Herren führen zu nichts – oder sagen wir: zu drei leeren Stühlen auf dem Tisch.
Es wundert nicht: Der Mann der Kaffeemühlen-Frau wendet sich in Anbetracht solch anregenden Ehelebens einer Jüngeren zu: Er schenkt ihr einen Drachen mit schön geschmücktem Schwanz, und sie lässt seinen Drachen steigen. Sie schwebt auf einer Wolke, tanzt vor Glück und präsentiert sich: Seht her, ich bin da.
Und da ist dann auch das überwältigendste Bild des Abends. Vielleicht ist sie nur eine Projektion der Männer, eine Art Wunschtraum, diese kroatische Blumenkönigin, die dann von rechts nach links die Bühne durchschreitet: Mit einem sagenhaft hohen Blumenhut auf dem Kopf und einer noch sagenhafteren Schleppe am Kleid. Die volle Bühnenbreite bedeckt dieser über und über mit Blumen bepflanzte Schleppen-Teppich, den nun die übrigen Frauen betreten. Identifizieren sie sich mit diesem Wunschbild, sonnen sie sich im Glanze der Blumenkönigin? Egal, da defilieren sie jedenfalls vorbei: die Löffelfrau, die Tänzerin mit dem roten Rock, die Frau mit der Suppenschüssel und mit der Kaffeemühle. Und, ohweia, die mit dem Käfig.
Der Gatte jedenfalls kommt heim. Ein Pascha, ein Macho, aber er kehrt zurück von der hübschen luftigen Drachensteigerin zum geerdeteren Kaffeeweib. Es ist noch Suppe da; er lässt sich von seiner genervten Frau bedienen. Es gibt Streit, Androhungen von Gewalt. Von Besitzansprüchen und Unterwerfung. Zaghafte Versuche der Frau, in die Freiheit auszubrechen, werden unterbunden. – Am Tisch verabreden sich die drei Männer bald zum Kartenspiel. Es ist das alte südeuropäische Stereotyp: Die Männer in die Kneipe, die Frauen ins Haus. In diesem Falle: vor die Kneipe. Denn sie drücken sich draußen vor dem Fenster die Nase platt, um ja nichts zu versäumen von dem, was drinnen vor sich geht. Da ist inzwischen eine der Frauen aufgetaucht. Und es scheint, dass derjenige, der beim Kartenspiel gewinnt, auch die Lady heimführt. Doch denkste: die wird unter den Tisch gekippt. - „If I have to go, will you remember me?“, singt es harmonisch vom Band. Mann und Frau tanzen, eng umschlungen. Abschied. Tod? Altersmilde?
Ja, das war sie, die kleine Geschichte, die uns die 13 Tänzer aus Sisak erzählen. In fünfzig Minuten fast ein ganzes Leben. Mit Liebe, Eifersucht, Fluchtversuchen und Versöhnung. Erzählt wurde das alles ohne Worte in gemessenem Tempo zu harmonischer Musik. Das mag ein wenig überraschen, denn im wahren Leben dürften in dieser Zeit nicht nur Zuckerstückchen geflogen sein. Bei den Profis von Sidi Larbi Cherkaoui oder Wim Vandekeybus wäre es da temperamentvoller zugegangen. Aber so sind sie eben, die Damen und Herren von der Crystal Cube of Brightness: sie bevorzugen eine ästhetisierende Bildsprache. Aber schön war’s doch.