Partita 2 im Bochum, Jahrhunderthalle

De Keersmaeker trifft auf Bach

Atemlose Stille herrscht auf der Tribüne. Durch den stockfinsteren riesigen Raum hallt der Klang einer Violine. Amandine Beyer spielt Bachs Partita Nr. 2 in d-moll für Solovioline schlafwandlerisch sicher, wie mit verbundenen Augen. Zart hüpft der Bogen über die Saiten, perlen Läufe wie frisches Wasser aus einer Gebirgsquelle. Nur ein bisschen hastig, wie gehetzt wirken die Tempi zuweilen, so dass Phrasierungen, Dynamik und Rhythmen gelegentlich verschwimmen, Töne verloren gehen. Wenige Minuten nach Beginn der berühmten Chaconne - vor den ersten stringenten Doppelgriffen dieses letzten und längsten Satzes der Tanzsuite - bricht das Spiel abrupt ab. Im allmählich dämmernden, fahlen Licht werden zwei Gestalten erkennbar. Fast ebenso lang wie zuvor die belgische Geigerin Bach spielte, bewegen sich dann Anne Teresa De Keersmaeker und ihr junger Landsmann Boris Charmatz lautlos - bis auf das Quietschen der Sneakers - über die große Spielfläche, auf die eine Ellipse aufgemalt ist mit unterschiedlich großen Kreisen innen drin. Wie Hilfslinien wirken die Kreidemuster, wenn das Duo durch den Raum geht, rennt, springt, hüpft, die Schuhsohlen aneinander reibt, in typischen De Keersmaeker-Posen, die oftmals von fern an den Code des klassischen Balletts erinnern, erstarrt. Selten berühren sich die beiden. So unvermittelt, wie die Geigerin ihr Spiel abbrach, enden die Tänzer ihr "Probieren", dem musikalischen Meisterwerk kongeniale Körperkunst entgegenzusetzen.

Zu Dritt kehren die Künstler zurück in die "Arena". Nun erklingt Bachs Stück komplett. So dicht umspielen die Tänzer die Geigerin manchmal, dass sie im 1. Satz einmal aus dem Takt kommt. Nur eine etwas längere, besonders prägnante Sequenz, ist leicht wieder zu erkennen aus den Bewegungsabläufen des ersten Teils: Charmatz schwingt De Keersmaeker um seine eigene Achse, rennt mit ihr an die Rückwand, wo sie sich mit den Füßen abfedert und auf der Mauer, von Charmatz gehalten, ein paar Schritte spaziert. Oft meint man, Kinder auf einem Spielplatz tollen zu sehen oder in einer Turnhalle Übungen auszuprobieren. De Keersmaekers enormem Ausdrucksrepertoire und den gezielt eingesetzten Schwüngen ihres Rockes hat Charmatz meist nur Nachahmungen oder burschikose Streckungen und männlich weite Schritte entgegenzusetzen. Improvisiert wirken die meisten Bewegungsminiaturen. Dabei sind sie in wochenlanger intensiver Arbeit minutiös choreografiert und einstudiert.

Um den Kreis dreht sich seit den 1980er Jahren das choreografische Raum-Denken der 50-jährigen Belgierin, die gerade von der Zeitschrift "tanz" - eben auch für "Partita 2" - zur "Tänzerin des Jahres" gekürt worden ist.  Seit damals auch - seit Mikrokosmos/Monument/Quatuor No. 4 von 1987 - kreist De Keersmaekers Kunst um den Dialog von Musik und Tanz mit allen ausführenden Künstlern der beiden Sparten gleichberechtigt auf der Bühne.

Es fällt schwer, die Erinnerung an Hans van Manens Solo für drei männliche Tänzer auf Bachs Solopartita Nr. 1 in b-moll zu verdrängen (und auch kongeniale Interpretationen des Bach'schen Meisterwerks etwa durch Yehudi Menuhin, Wolfgang Schneiderhan oder Hilary Hahn). De Keersmaeker ist entschlossen, ihre Suche fortzusetzen, Bachs Stücke für Solovioline mit ihrer Körperkunst adäquat zu konterkarieren. Noch hat sich der Kreis nicht geschlossen. Den Schlussapplaus am Premierenabend in der Bochumer Jahrhunderthalle unterbrach die Choreografin, um an der Rampe gemeinsam mit der Geigerin und Charmatz einen kleinen Ausschnitt aus der 3. Partita zu bieten. Angesichts der sparsamen, eleganten Gesten kam Neugier auf, wie dieser Dialog zwischen dem genialen Mathematiker der Musik und der "Architektin des Tanzes" weitergehen wird.