Mary Wigmans Frühlingsweihe
Die sicher bemerkenswerteste deutsche Sacre du Printemps-Einstudierung in diesem Jubiläumsjahr ist die Rekonstruktion der Frühlingsweihe von Mary Wigman. Uraufgeführt in Berlin 1957 als letzte Arbeit von Deutschlands berühmtester Ausdruckstänzerin, regte Tanzwissenschaftlerin Dr. Patricia Stöckemann, zur Zeit Tanzdramaturgin in Osnabrück, das Projekt wagemutig an. Sie sicherte nicht nur die Unterstützung des "Tanzfonds Erbe" der Kulturstiftung des Bundes, sondern konnte auch im Anschluss an ihre eigenen aufwendigen Recherchen Gregor Zöllig, Tanzchef in Bielefeld, ins Boot holen. So standen immerhin 20 Tänzerinnen und Tänzer zur Verfügung - rund die Hälfte der Originalbesetzung, aber (ergänzt durch neun Gäste) gerade die richtige Gruppengröße für die ungefähr gleich großen - bzw. kleinen - Bühnen in Osnabrück und Bielefeld. Ein vorzüglich kompetentes Team konnte für die Einstudierung gewonnen werden: Henrietta Horn als künstlerische Leiterin, Katharine Sehnert - eine der letzten Wigman-Schülerinnen - und Susan Barnett, ehemalige Tänzerin und Tanzwissenschaftlerin, dazu der ebenfalls mit den künstlerisch Verantwortlichen vertraute Ausstatter Alfred Peter. Einblick in die immense Arbeit dieses Unterfangens gewähren Text- und Bildbeiträge im vorzüglichen Programmbuch.
Darin erfährt man auch, dass ausgerechnet der Tanz des Opfers eine völlige "Leerstelle" im opulenten Rekonstruktionsmaterial ist. Weder in Briefen noch in anderen erhaltenen Überlegungen Wigmans zu diesem Auftrag von der Städtischen Oper Berlin finden sich Hinweise zu dieser Schlüsselszene. Leider existiert auch kein Film mit Dore Hoyer, die das Opfer in der Berliner Aufführung tanzte. So mussten die Rekonstrukteurinnen weitgehend mutmaßen. Doch fügt sich das Solo insgesamt in die archaisch gefärbte, expressionistische Tanzsprache Wigmans - erstaunlicherweise allerdings hier in deutlicher Nähe zu Martha Grahams antik mythologischen Tänzen. Da ist zum einen der weit schwingende Glockenrock an der elegant schmal geschnittenen feuerroten Robe, die sich in ihrer festlichen Pracht von den taubenblauen und beigen Trachten der Priester und Bauern abhebt. Zum anderen fallen die Ports de bras auf, nachempfunden den stilisierten, alt-ägyptischen Darstellungen auf Amphoren, wie sie Graham so gern verwendete. So entspricht dieser Auftritt durchaus der Interpretation Wigmans der tanzenden Priesterin in ihrem Schlusstanz, der "die harte, verkrustete Erde bezaubern, elektrisieren, anfeuern soll, neues Leben zu treiben, sich zu verjüngen". Der "archaisch-sakrale Kuss der Erde" passe in diese "prähistorische, mythische Welt, in der durch tiefst symbolische Riten der Frühling zelebriert wird".
In der besuchten Vorstellung, der Bielefelder Premiere am 17. November, tanzte die Taiwanesin Hsuan Cheng aus dem Bielefelder Ensemble dieses große Solo. Mit grandioser Intensität und Geschmeidigkeit lebt sie die "Sendung" dieser jungen Priesterin stolz und würdevoll. Cheng, Folkwang-Absolventin wie viele andere an diesem Projekt Beteiligte und eine der sechs "Auserwählten" für die Vorstellungen bis zum Frühjahr, strahlt eine bisher an ihr noch nicht wahrgenommene Aura aus, die das Opfer zur Besiegerin des Winters, der Vergänglichkeit macht. Eine staunenswerte, durchaus plausible Wendung. Freilich nannte Wigman ihre Sacre-Version ja auch Frühlingsweihe und eben nicht "Opfer". Ganz und gar fehlt in dieser Szene deshalb wohl auch "das Panische", das Wigman für dieses Ballett durchaus einfordert.
Die Bielefelder Philharmoniker spielen die kraftvoll dynamische Partitur unter der Leitung von Alexander Kalajdzic - eine beeindruckende Leistung, zumal auch die beiden vorangestellten Gruppenchoreografien mit Musik von Arvo Pärt und Steve Reich live begleitet werden. Wie Vorarbeiten wirken die abstrakten Stücke von Mauro de Candia (Fiat Lux)und Gregor Zöllig (Rauschen). Die beiden Tanztheaterdirektoren von Osnabrück und Bielefeld setzen mit ihren Studien über Raum, Licht und Klang eigenständig und dezent einen Kontrast zu Wigmans Ballett.
Zweifellos: Die Rekonstruktionsarbeit hat gelohnt. Dass Wigmans Sacre-Version allerdings Bestandteil des internationalen Repertoires wird, ist zweifelhaft - allenfalls als historischer Meilenstein wie Nijinskys Uraufführungs-Einrichtung hier und da einstudiert vielleicht. Zu anders hören wir heutige Zuschauer die harsche Brutalität von Strawinskys Musik. Zu sehr hat sich der Tanz verändert. So viel tiefer gehen uns etwa Meryl Tankards Solo für Paul White The Oracle unter die Haut - und noch immer Bauschs Frühlingsopfer.