Übrigens …

Wellness im Düsseldorf, Forum Freies Theater

Renée rennt

Ganz jung sind sie noch, die Österreicherin Florentina Holzinger und der Niederländer Vincent Riebeek, Wellness ist erst die dritte Zusammenarbeit der beiden nach dem gemeinsamen Abschluss der School for New Dance Development in Amsterdam, aber sie haben schon einen Ruf wie Donnerhall: Ihre Arbeiten bewegten sich „auf einem schmalen Grat zwischen Obszönität und Schönheit, zwischen Faszination und Ekel“, heißt es; das Duo zähle „zu den provokantesten Nachwuchskünstlern in Europa.“

Diese Einschätzung ist vor allem auf den ersten Teil ihrer Trilogie zum Thema „Body Art“ zurückzuführen: In Kein Applaus für Scheiße wurden Körperflüssigkeiten aller Art live auf die Bühne (und auf die Tanzpartner!) ausgeschieden, was dem Stück jede Menge Preise und Festivaleinladungen einbrachte. Durchaus ernstzunehmende Menschen behaupten, diese ekelhaften Vorgänge seien gar nicht abstoßend gewesen, weil die die Performer, die sich in der Tradition der Performance Künstler der 70er Jahre sehen, so überzeugt hätten. Wellness ist nun der dritte Teil der Trilogie – und auch der dritte Teil der Reihe Public Bodies, mit der das Forum Freies Theater Düsseldorf die veränderte Bedeutung von Nacktheit und die Verschiebung der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem in Zeiten von Internet-Pornographie und freiwilliger Zurschaustellung der eigenen Sexualität untersuchen wollte, im Zeitalter der medialen Inszenierung von Folter oder der befremdlichen Form des Protestes der Femen-Aktivistinnen. Die Uraufführung von Wellness war gleichzeitig Bestandteil eines vom FFT gemeinsam mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf durchgeführten Symposiums zum Thema „Public Bodies – Dramaturgien der Entblößung“.  

 

„Dramaturgien der Entblößung“ – das haben Holzinger und Riebeek ernst genommen: In dramaturgisch exakt festgelegten Schritten legen die fünf Performer von Szene zu Szene mehr Kleidungsstücke ab. Die einzige, die angezogen bleibt, ist Renée Copraij – dabei sieht ausgerechnet sie mit schrillem, betonhartem Make-up und aufschnallten Brustimplantaten aus, als wäre sie Russ Meyers tiefem Tal der Superhexen entsprungen. Und ausgerechnet sie soll wohl diejenige sein, die der Programmzettel als Vorbild für die nach dem perfekten Körper strebenden Akteure bezeichnet: die „Miss Universe als Ikone einer Generation, mit hohen Wangenknochen und perfekt sitzendem Make-up.“

Nun, eine flotte Doris zum Knuddeln ist sie nicht, eher ein Frankenstein-Wesen, zu dem wir auf Distanz gehen möchten. Wie eine lebensgroße, übermäßig angemalte Puppe liegt sie zu Beginn in einem einer Grabfläche ähnelnden Scherbenbett; ganz allmählich wird sie von den übrigen Darstellern zum Leben erweckt. Dann wird sie erstmal abgewienert mit Make-up-Feudel und Puderquaste, bevor sie anfängt zu sprechen: „Make-up is a magic … you can transform into every character you hope to play.“ Womit das erste Thema der Performance definiert wäre:  Identitätsfindung und die Banalität der Vorbilder in einer Zeit, in der Teilnehmerinnen von Top Model Casting Shows zu Leitbildern der Jugend werden. 

In der Ankündigung aber hatte es doch geheißen, die Produktion wolle „die heilende Wirkung von Kunst und Tanz“ ausloten – also ein „Wellness“-Programm bieten? Nun ja, Renée mutiert nun zur Yoga- und Fitness-Trainerin. Mit bemerkenswerter Kondition trabt sie auf dem Laufband und dirigiert die Fitness-Gemeinde, die sich einem geradezu militaristischen, fast faschistoiden System unterwirft. Renée aber rennt. Es folgen Yoga-Übungen, und Renée rennt. An die Lehren der Eurythmie erinnernde Tänze – und Renée rennt. Ihre Ansagen bekommen immer stärker hypnotische Züge. Längst hat sie aus ihren Mega-Titten literweise Massageöl auf Akteure und Bühne verspritzt, und die Spielfläche verwandelt sich in eine schmierseifenglatte Rutschbahn. Renée rennt. Längst sind die übrigen Akteure splitternackt, leben ihren Körperkult in Ekstase aus, mit tollen, ineinander verknäuelten nackten Figuren, die mal einen Sexualakt andeuten, sich dann wieder Körperteilen anderer Partner zuwenden – und Formationen bilden wie bei den schönsten antiken Skulpturen. Hat diese Tanzchoreografie noch etwas von lustvoller Konzentration auf den eigenen Körper sowie den der Partner, so wird Holzinger hinten im Halbdunkel der Bühne täuschend echt a tergo penetriert - im dumpfen automatisierten Porno-Rhythmus. Da haben wir die Provokation, aber tatsächlich wirkt sie im Gesamtzusammenhang der Inszenierung verhältnismäßig harmlos, eher als logische Konsequenz eines drogenumnebelten Diskoabends: Pulsierende, aufputschende, stampfende Musik, rotes oder blaues Disko-Light nehmen Tänzer und Publikum mit auf eine hitzige emotionale Reise; we can hear our hearts beat, in einer Art Drogenrausch werden Geist und Bewusstsein infiltriert, wir erleben Geisterbahnen und Horrorkabinette aus dem Jahrmarkt oder aus einschlägigen Filmen. Heilende Wirkung von Tanz und Bodykult? Bodykult als Hochleistungssport, beim Schminken wie beim Tanzen; Drugs & Dope tragen uns über jede natürliche Grenze hinaus. 

Was die Tänzerinnen und Tänzer bis zu diesem Zeitpunkt leisten, ist sensationell. In Sachen Tempo, Kraft und Ästhetik kann sich die Truppe mit den großen Namen der Szene messen, und es ist tatsächlich so: Mag auch die Beschreibung der recht expliziten Darstellungen von Sexualakten auf den einen oder anderen potentiellen Zuschauer abstoßend wirken, so ist die „sportliche“ Qualität des Tanzes und der Gymnastik, die Ausstrahlung und Professionalität der Akteure so überzeugend, dass der Abend zu keinem Zeitpunkt unangenehm wird. Der harmlosere zweite Teil bekommt allerdings Längen: Plötzlich wird das Tempo wieder heruntergefahren, und es werden – verbal - vorwiegend apokalyptische Bilder des 20., 21. und 22. Jahrhunderts beschworen und diskutiert: Atomversuche und -kriege, Mutationen, Zeiten, in denen es keine Tiere mehr geben wird und keine Kinder mehr geboren werden, der Taifun auf den Philippinen, der Skandal um Miley Cyrus (!) usw.. – Da ist schon viel Phantasie und Interpretationskunst gefragt, um zu verstehen, was uns der Künstler damit sagen will. Aber sehen wir’s so: Während Körperkult und Top Model Shows zum Zentrum unserer heutigen Aufmerksamkeit werden, gibt es so viel dramatische Probleme mit echter Relevanz, die wir vernachlässigen. Mit Wellness können wir etwas für die Heilung von Körper und Seele tun – wenn wir Wellness aber zum Sinn unseres Daseins machen, verlieren wir eventuell die Sensibilität für die wahren Probleme dieser Welt.

Mit Wellness von Holzinger und Riebeek tun wir etwas für Verstand und Seele: Wir erweitern unseren Horizont durch eine neue, radikale Form der Choreografie, und erfreuen uns an einer vorübergehenden, durchaus faszinierenden Infiltration unseres Bewusstseinszustandes mit Hilfe von Licht, Musik und herausragendem Tanz. Dass das FFT sich die Uraufführung holte, kann das Theater als Erfolg verbuchen. Im Frühjahr 2014 können die Münsteraner die Probe aufs Exempel machen, was das Provokationspotential von Holzinger und Riebeek angeht: Dann gastiert die Aufführung im Theater im Pumpenhaus.