Übrigens …

Eldorado / Lust im Flottmann-Hallen, Herne

Die Überläufer - von der Straße ins Theater

Eine private Street-Art-Initiative schreibt deutsche Kulturgeschichte: die Tanztheatergruppe Renegade (die Überläufer, Abtrünnigen) aus Herne bekommt ab Sommer 2014 Bochums Zeche 1 als feste Spielstätte mit Proben- und Werkstatträumen. In die ehemalige Waschkaue, wo in den 1980er Jahren Reinhild Hoffmann ihre Tanzkunst bot, zieht "gezähmte" Street-Art ein. Das ist bisher einzigartig in Deutschland - so wie die ganze bemerkenswerte Geschichte.

Vor zehn Jahren gründeten drei sehr seriöse Herren, darunter der deutsch-türkische Zekai Fenerci, die freie Tanztheatergruppe Renegade. Ihr Traum: Sie wollten Herner HipHop-Kids von der Straße ins Theater locken, Street-Art und zeitgenössische Tanztheatertechniken zusammenführen. Gleich mit der ersten Produktion, der Romeo und Julia-Version Rumble landeten sie einen internationalen Erfolg und heimsten zwei deutsche und zwei ausländische Preise ein. Neben Lorca Renoux (Rumble u.a.) arbeiten renommierte Choreografen wie Malou Airaudo (u.a. Irgendwo) und Samir Akika (u.a. Crayfish) für Renegade. Momentan studiert Susanne Linke mit Renegade ihr legendäres Männerstück Ruhr-Ort ein. Es hat am 24. Januar in den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum im Rahmen von "Renegade in Residence" Premiere.

2007 nahm die Privatinitiative multikultureller urbaner Kunst Gestalt an in Form des eingetragenen Vereins "Pottporus". Das Kunstwort steht für Ruhrpott und Bosporus. Aushängeschild ist das Pottporus-Festival in mehreren Ruhrgebietsstädten im Herbst. Geschäftsführer und künstlerischer Leiter ist - wie für Renegade - Zekai Fenerci. Am Donnerstag wurde die 9. Folge eröffnet. Nachmittags trafen sich zeitgleich in Wanne-Eickel und Herne jeweils rund 200 Schüler unterschiedlichster Altersgruppen bei leider nicht optimalem Wetter auf öffentlichen Plätzen zum "Flash Mob" - einstudierten Massenchoreografien. Abends gingen in den Flottmann-Hallen auf einem ehemaligen Fabrikgelände für Bergbau-Bohrhämmer zwei Premieren, wie sie typisch für dieses Street-Art-Festival sind, über zwei Bühnen.

Als Deutschlandpremiere zeigte die belgische Compagnie 3637 von Bénédicte Mottart Eldorado. Wo ist unser Traumort - wie möchten wir dort leben? Fünf junge Menschen leben diesen Traum, der oft genug zum Alptraum wird. Wie Flüchtlinge tauchen sie in abgerissenen Kleidern, mit groben Stiefeln erschöpft aus dem Dunkel auf. Höchste Spannung liegt in der Luft. Vor ihnen die Grenze - ein weitmaschiges Netz - da müssen, da wollen sie durch. Mal kämpfen sie sich Stück für Stück gemeinsam vor, mal hilft einer dem anderen, meist kämpft jeder für sich - und manchmal auch gegen die anderen. Immer animalischer werden ihre Bewegungen. Sie hängen im Netz, rasten dort. Eng an einander geschmiegt wie eine Affenfamilie schlafen sie, bevor sie sich weiter über die Seile hangeln. Eine Frau bricht zusammen, wird vom Mann zärtlich ins Leben zurückgeholt, eine Wegstrecke mitgeschleppt. Aber drüben, auf der anderen Seite - das wird bald klar - ist auch nicht das erträumte Eldorado. In dem Hin und Her zwischen diesseits und jenseits erwürgt sich eine Frau in den völlig verhedderten Seilen. Verzückung bricht sich schließlich doch Bahn - mündet in einem gigantischen Crescendo aus Klang, Licht und Bewegung - bis alles jäh zusammenbricht.

Ganz anders dann im Obergeschoss derselben Halle vor einer malerischen halbrunden Fensterwand die Renegade-Uraufführung von Lust in der Choreografie der Spanier Caterina Varela und Alexis Fernández Ferrera von La Macana. Da toben sich acht unglaubliche Streetdancer, mit einer gehörigen Portion Schauspieltalent ausgestattet, so richtig aus. Bei allem Ulk und Klamauk dominiert die schiere Lebenslust und Gummipuppen-Körperkunst mit rasanten Breakdance-Einlagen, witzigen Diskursen und Spielereien - zum Beispiel mit einem bunt bemalten Roboter, der an einen Nussknacker erinnert und auf einem Unterarm balanciert werden kann (wenn man's denn so gut kann wie dieser lange Schlaks). Die kleine Schokoladen-Sahnetorte kriegt nach langer Auswahlzeremonie am Ende schließlich ein Zuschauer ins Gesicht. Was für ein erfrischend ehrlicher, unterhaltsamer Tanzabend!

Mit Graffiti an einer Brückenunterführung, einem Film und einer Ausstellung zur Renegade-Geschichte (bis 24.11. im Alten Wartesaal Herne), einem Symposium zu den Perspektiven und Bewegungen im Tanz, der traditionellen Ruhrpott-Battle von B-Boys und -Girls aus vielen Ländern und Aufführungen u.a. in Bochum geht das Ruhrgebiets-Fest noch bis Sonntag weiter.