Im Totenreich und Zweiter Frühling
Pina Bauschs Fassung von Le Sacre du Printemps (1975) gehört längst zu den weltweit am meisten aufgeführten Bausch-Choreografien. Zum 40-jährigen Jubiläum des Tanztheaters Wuppertal PINA40 wird es erstmals seit über 30 Jahren wieder mit den beiden anderen Tanzstücken aufgeführt, mit denen Bausch ihr Frühlingsopfer damals zu einem Strawinsky-Abend zusammenfasste. Dafür mussten die beiden anderen Stücke rekonstruiert werden. Die Besetzung der drei Frühwerke listet ausschließlich Mitglieder des Folkwang Tanzstudios sowie Studierende der Folkwang Universität der Künste, Essen, und der Juilliard School, New York. Fast auf den Tag genau 38 Jahre nach der Uraufführung ging die Premiere jetzt wieder über die Bühne des Opernhauses Wuppertal.
Wind von West, ein Projekt der Pina Bausch Foundation, entstand mit Unterstützung des Tanzfonds Erbe in internationaler Kooperation der Juilliard School und der Folkwang Universität - undenkbar, aus jetziger Sicht jedenfalls, ohne die Einstudierung durch Tänzer der Uraufführung aus beiden Städten. Konzipiert auf Strawinskys Cantata von 1951/52 vollziehen sich düstere Rituale, die sich nur erschließen, wenn man das Thema der Gesänge kennt: die Wanderung einer Seele durch das Fegefeuer. Das vorletzte, mittelalterliche Lied Westron Wind - bevor sich die Tote auf die hell erleuchtete Bahre legt, bereit für die ewige Ruhe - erklärt den Titel des Stücks ("Westwind, wann bläst du wieder.... Der Regen kann regnen...., wenn meine Liebe wieder in meinen Armen läge und ich in meinem Bett ruhte"). Bausch folgt der musikalischen Besetzung für Frauenchor, Sopran- und Tenor-Solo mit kleiner Holzbläser- und Cello-Begleitung: Mädchen tanzen in schlichten langen Chiffonkleidern. Dazu ein trauerndes Frauenpaar vorn neben der puppenhaft steifen Frau, ihr Geliebter und ein "nackter" Mann, die Seele der Frau. Bauschs Ernst und die choreografische Kraft deuten in fast bestürzender Weise auf ihre tiefe, lebenslange Auseinandersetzung mit dem Tod - und vergegenwärtigen ihre Genialität.
Gleich danach zeigt Der zweite Frühling sie von einer ganz anderen, ihrer humorvollen Seite: ein altes Ehepaar sitzt inmitten seiner pompösen Pracht mit Jugendstil-Vertiko und Sofa, mit Perserteppichen und Plüschsessel, und diniert. Während die alte Dame nur Teller und Schüsseln im Blick hat, flirtet der Gatte mit heftigem Charme. Je ostentativer er sie bedrängt, desto verkrampfter und irritierter reagiert sie. Laszive Wünsche und freizügige Erinnerungen geistern durch den Raum - ein köstliches Vergnügen.
Frühlingsopfer schleudern die jungen Tänzerinnen und Tänzer mit unglaublicher Intensität in den Raum. Eine Premiere, die große Zuversicht für das Fortleben nicht nur von Pina Bauschs Frühwerk, sondern der Kunst der Grande Dame des Tanztheaters überhaupt weckt.