Zwischen Wirklichkeit und Wunschtraum
Das Ballett Dortmund beschenkte sein junges Publikum zwei Tage vor Heiligabend spontan mit einem besonderen Bonbon: Xin Peng Wangs Ballett Fantasia mit einer Einführung speziell für Kinder samt Blick hinter die Kulissen - für manche offenbar so schön wie ein Blick durchs Schlüsselloch ins Weihnachtszimmer. Ein Dutzend Winzlinge in der ersten Reihe zeigte sich verblüffend aufmerksam und theatererfahren. Sie wussten, dass in dem „schwarzen Loch zwischen Bühne und Zuschauerraum" die „Musikmacher" sitzen und dass die Dortmunder Tänzer aus 21 Nationen unter einander englisch sprechen, aber die offizielle Ballettsprache aus Frankreich kommt. Eine bildhübsche kleine Ballerina konnte eine Arabesque andeuten und ließ sich - wenn auch etwas zaghaft - von Ballettmanager Tobias Ehinger in die Höhe heben. Reglos standen sie alle auch noch, als Ehinger die komplizierte, lange Geschichte vorlas, die anschließend getanzt werden sollte. Und mucksmäuschenstill war es bis zum Schlussapplaus nach über zwei Stunden Aufführung.
So straften die Kleinsten manch' alte Theaterhasen Lügen, die behaupten, dass Fantasia von Librettist Christian Baier und Choreograf Xin Peng Wang selbstverliebt allzu ausführlich zelebriert werde. Weniger plakative Floskeln im Programmheft, kürzere Ensembleszenen und ein paar rigorose Striche stünden diesem ebenso fantasie- wie liebevoll verpackten Ballett ganz sicher gut zu Gesicht. Auch könnte der Titel - abgeleitet von Fantasie als Mittel der Selbstfindung - gut ohne die Disneyfilm-Assoziation auskommen und die tapfere Alicia - so sehr ihre Alpträume an Alice in Wonderland erinnern - ruhig einen wirklich eigenen Namen tragen.
Andererseits aber bietet dieses Ballett, Ende 2011 uraufgeführt und nun in leicht revidierter Form neu einstudiert, hinreißende Szenen - und Musik wie geschaffen für Nachtmahre und Märchen. Sinfonisches, Opernausschnitte und Klavierminiaturen von Modest Mussorgsky bilden den überaus plastischen Klangteppich, durchwebt von funkelnder Dramatik, praller Heroik und zarter Lyrik. Die Dortmunder Philharmoniker unter dem jungen Philipp Armbruster und Pianistin Tatjana Prushinskaya geben ihr Bestes - und das ist sehr, sehr viel! Wangs fast puristisch neoklassischer Stil gewinnt begeisternde Lebendigkeit durch die unaufdringlich, aber doch deutlich wahrnehmbare Inspiration aus musikalischer Rhythmik und Dynamik.
Vor allem begeistert der neu eingefügte Tanz der schwarzen Raben, wogegen der Tanz der Drachen(klauen) unter dem drohend über der Szene schwebenden, feuerspeienden Ungeheuer mit den glühendroten Augen eher steif und einfallslos daherkommt. Herrlich die drei Kitzelmänner: spindeldürre Lulatsche, kahlköpfig und fast nackt - der eine mit Buckel, der zweite mit dicker Wampe, der Dritte ein dürres Skelett - alle mit Tierfüßen, riesigen Segelohren, Spinnenbein-Fingern und köstlich gruseligen Grinsegrimassen. Glühwürmchen tanzen durch die Nacht. Zauberhaft - und gar nicht „gemein" - hüpfen vier quirlige, quietschgelbe Vögel zum Tanz der Küken in den Eierschalen aus den Bildern einer Ausstellung im nächtlichen Wald um Alicia herum.
Schön auch, dass bei dieser Kindervorstellung die Eleven des Balletts zum Zuge kamen - z. B. Yuto Ideno und Takahiro Tamagawa als tapsig-behende Käfer und Julia Vargas Gil als Alicias Spiegelbild. Auch viel mehr Kinder der Ballettschule La Pointe treten an diesem Nachmittag auf als bei der Uraufführung (und vielleicht auch bei den Abendvorstellungen).
Problematisch bleibt das Libretto von Christian Baier. Die Traum- und Märchenbilder stellt er in eine realistische Rahmenhandlung: zwei Geschwister sind nach schwerer Krankheit an den Rollstuhl gefesselt. Während Florian (zerbrechlich und zurückhaltend: Eugenio Cilenco) seine Wut auf einen Handpuppen-Drachen überträgt, müht sich Alicia (mädchenhaft reizend, forsch und technisch versiert mit ihrer eigenen eckig-graziösen Gestik: Barbara Melo Freire) wieder gehen zu lernen. Unbedingt will sie ihr Schicksal bezwingen. Die Fee der Zuversicht (unnahbar herb: Risa Tateishi) macht den Wunschtraum wahr. Sie befreit Alicia von der Orthese. Der diabolische Dr.Zaponetti (mit eleganter Ballerino-Aura: Mark Radjapov) verwandelt Florian in einen furchterregenden, kinderfressenden Drachen. Am Ende aber sind die Geschwister gesund vereint und tanzen in den siebten Himmel hinein (dank Bühnentechnik), während die Rollstühle auf der unteren Etage verwaist im Kinderzimmer stehen. Schön und gut. Nur: wie viel schöner wäre ein großes Finale mit all den köstlich kostümierten Traumgestalten!