Der Tod tanzt Walzer
Der Österreicher Ödön von Horvath schrieb Schauspiele über die Banalität des Alltags, über die naiven Träume und die großen Abstürze ins Geschichtslose. Das hintergründig Böse bestimmt das Klima dieser scheinbar „kleinen“ Stücke zwischen Groteske und Satire, Läuterung und Sühne. Er wollte „gegen Dummheit und Lüge schreiben“ – andererseits plädierte er bei seinen Bühnenfiguren für „Vernunft und Aufrichtigkeit“.
Wie macht man aus diesem Grundkonzept eines trivialen Weltverständnisses ein Ballett, das seinen eigenen Regeln und Ritualen folgen muss? Der chinesische Erfolgsgarant für das Dortmunder Ballett wagt es mit seiner (vom Publikum nahezu bedingungslos gefeierten) Uraufführung Geschichten aus dem Wienerwald - das Drama stammt aus dem Jahr 1931, einer Zeit der wirtschaftlichen Depression in Europa. Der Zusammenprall von Leben und Tod, der schließlich siegt, wird für Xin Peng Wang zum Kern seiner Aussage. Der elegant Polka und Walzer tanzende Sensenmann alias Mark Radjapov zieht das Geschehen in der Wiener Vorstadtidylle an sich. Er scheint immer präsent zu sein.
Marianne (Monica Fotescu-Uta), ein unauffälliges Mädchen aus einer stillen Gasse, ist mit dem braven Oscar (Howard Quintero Lopez) verlobt. Als sie den undurchsichtigen Charmeur Alfred (als Gast aus St. Petersburg: Dmitry Semionov) kennenlernt, ist es um sie geschehen. Sie bekommt ein Kind von ihm, wird bald darauf wieder sitzen gelassen, obwohl sie das ungeliebte Kind in Pflege gibt. Doch Alfred wendet sich schon bald neuen Liebschaften und Abenteuern zu. Marianne bleibt allein, fragt Gott nach der Gerechtigkeit, der ihr jedoch nicht antwortet. Sie kehrt zu Oscar zurück. Das Kind stirbt… Eine Legende in Wien besagt, so der Choreograph, dass alle Toten, die im Leben noch eine Rechnung offen haben, an einem Tag auf die Erde kommen, um die Rechnung zu begleichen. Sie hoffen auf ihre Chance. Und wenn diese ewig dauert. So erfährt es auch Marianne. Die Bilanz ihres Lebens und ihres Todes fällt bittersüß aus.
Xin Peng Wang erzählt mit seiner bestens trainierten Compagnie aus dem bildersatten Dreier-Temperament des Walzers heraus. In einer abendfüllenden Musikcollage (Orchester/Kammermusikensemble) baut er jedoch auch Alban Berg aus der „Zweiten Wiener Schule“ sporadisch ein – das gelingt bemerkenswert gut. Denn Bergs nüchterne, grelle Sprache entlarvt das Biedere, das Harmlose, das Doppelbödige des Kleinbürgertums. Dirigent Motonori Kobayashi bringt die Antipoden – hier Johann Strauß’ Heiterkeit, dort Bergs Lulu-Suite – mühelos zusammen.
Doch der entlarvende Horvathsche Tiefgang fehlt. Das Ballett erreicht nicht die rissige Brüchigkeit der literarischen Vorlage. Xin Peng Wang steuert wunderschöne, koloritreiche und nachdenkliche Momente bei, doch die todesnahen Seelennöte der Protagonisten bleiben meist außen vor. Es bleibt eben doch eine „kleine“ Geschichte von Menschen, die an ihren Hoffnungen auf ein wenig „Mehr“ scheitern und die eigene Blindheit gegenüber den Bedingungen der Gesellschaft „übersehen“. Nein, der große Wurf eines moralischen Aufschreis innerhalb einer Wiener Parabel über die Brutalität der Normalität ist dieses Ballett nicht. Aber es gibt berührende, scheue, brillante, bilderbuchbunte, süffisante und komische Szenen. Dafür können sich die Hauptakteure im langen Applaus der Premiere sonnen.