Übrigens …

Giselle im Essen, Aalto-Theater

Romantischer Klassiker für heute

Adolphe Adams Giselle ist einer der populärsten Klassiker des romantischen Balletts. Aber so rührselig wie Théophile Gaultier die tragische Liebesgeschichte von dem zerbrechlichen Bauernmädchen und dem leichtsinnigen Herzog Albrecht erzählt, findet der englische Choreograf David Dawson sie nicht mehr zeitgemäß. Er skizziert in seinem ersten abendfüllenden Ballett heutige Menschen mit echten Gefühlen von Verliebtheit bis zu tiefer Verletzung und Trauer. Das Ensemble begeistert in dieser Co-Produktion des Essener Aalto Balletts mit Gelsenkirchens Ballett im Revier durch zauberhafte Natürlichkeit, unterstrichen durch die schwingenden pastellfarbenen Glockenröcke von Kostümbildnerin Yumiko Takeshima - allen voran Anna Kamzhina in der Titelpartie und Gelsenkirchens Ballettdirektorin Bridget Breiner, ehemalige Erste Solistin des Stuttgarter Balletts und Primaballerina des Dresdner Semper-Balletts, wo die Choreographie vor vier Jahren ihre Erstaufführung erlebte, in der sehr schlüssig aufgewerteten Rolle der Bathilde, Albrechts betrogener Verlobter.

Die um die fragile Gesundheit der Tochter besorgte Mutter ist gestrichen, ebenso das betont bäuerliche Ambiente des ersten Akts. In der abstrakten Architektur-Landschaft von Arne Walther feiert man eine Hochzeit. Als Braut trumpft Adeline Pastor mit akrobatischer Verve und ihren endlosen Pirouetten auf. Gute Figur machen der drahtige Davit Jeyranyan als Bräutigam und der dynamische Wataru Shimizu als Trauzeuge. Armen Hakobyan als Giselles Beschützer und glühender Brautwerber Hilarion überzeugt durch männliches Selbstbewusstsein. Die größte, wenn auch nicht neue Veränderung zur gängigen Fassung ist Giselles Tod: nicht an gebrochenem Herzen stirbt die Schwindsüchtige im Wahnsinn, sondern unbeabsichtigt von Albrechts Hand durch dessen Messer.

Den "weißen" Akt auf dem Friedhof zeichnet Dawson psychologisch: im mitternächtlichen Geisterreich der verschleierten Wilis verarbeitet Albrecht (der elegante Artur Babajanyan) seine Trauer um Giselle - eine schöne Idee. Allerdings ist auch hier, wie schon im ersten Akt, die Grenze an Ausdrucksmöglichkeiten seiner neoklassischen Handschrift unübersehbar.

Das musikalische Arrangement der viel bearbeiteten Partitur durch den Ballettspezialisten David Coleman zerstört in keiner Weise den zarten Zauber des Originals. Yannis Pouspourikas, neuer erster Kapellmeister des Aalto-Theaters, geht es mit den Bochumer Symphonikern vor allem im Vorspiel zum ersten Akt mit rasantem Tempo an und nimmt romantische Zwischentöne weitgehend heraus. Stimmungsvoll unterstreichen Sologeige (Christine Fischer-Eisenbrandt) und Bratsche (Marko Genero) die Intimität getanzter Emotionen. 

Wer klassisches Ballett mag, sollte sich diese Inszenierung in Essen oder Gelsenkirchen (ab Saison 2014/15) nicht entgehen lassen.