Menschliche Tragödien
Allzu groß können die Veränderungen in der "Neufassung" von Xin Peng Wangs Krieg und Frieden nicht sein, lässt ein Blick in die beiden Programmhefte von 2008 und 2014 vermuten. Denn das musikalische Rückgrat und die Szenenfolge sind identisch. Allerdings fehlt nun im Untertitel der Vermerk „Nach Motiven aus den Romanen Krieg und Frieden von Leo Tolstoi und Panzerschlacht von Christian Baier". Immerhin aber zeichnet Wangs langjähriger Wiener Dramaturg Baier auch jetzt noch verantwortlich für das Szenario, und er hat die vorzügliche Musikwahl getroffen. Tatsächlich ließe sich wohl kein besserer Komponist als Dimitri Schostakowitsch für ein Ballett nach Tolstois Epos über die verheerende Napoleonische Zeit in Russland finden. Sein vielseitiges Oeuvre bietet genügend Facetten, um Kriegsaufmärsche, Bälle der High Society und Totentänze, Rivalitäten und große Emotionen von Koketterie bis zu Todesängsten effektvoll zu „bedienen". Klangfarben der Sinfonien, Film- und Kammermusiken geben das Flair vor. Rhythmen von motorisch harschem Marsch bis Tango und Walzer laden förmlich zum Tanz ein. Die Dortmunder Philharmoniker (tutti und vielfach solistisch) brillieren unter Kapellmeister Philip Armbruster.
Eine neu eingefügte stumme Szene zu Beginn bleibt rätselhaft: Fünf weiß gekleidete Frauen, die ihre nackten Brüste mit den Händen verdecken, und eine kniende „Babuschka" mit nackten Schenkeln bilden ein regloses Tableau an der Rampe. Todesengel? Klageweiber? Am Ende, beim Totentanz zu Schostakowitschs Walzer aus der 1. Suite für Jazzorchester, mischen sie sich unter die gefallenen Männer und Frauen. Der Schwerpunkt des Balletts liegt jetzt im ganzen eher bei „Krieg", wie er ganze Völker trifft und individuelle Existenzen vernichtet, denn bei „Frieden". So heißen die „drei Männer" in der Neufassung "drei Soldaten". Die zwei Paare der beiden von Tolstoi beschriebenen Adelsgeschlechter werden nur mit wenigen Strichen skizziert: Natascha, verheiratet mit Pierre, verliebt sich in den Offizier Andreji . Dessen schwangere Frau Lisa wirft sich verzweifelt Pierre in die Arme. Der jedoch zieht in den Krieg, um seine treulose Frau zu vergessen. Im Solistenquartett von Monica Fotescu-Uta (Natascha), Jelena-Ana Stupar (Lisa), Mark Radjapov (Pierre) und Alysson da Rocha Alves (Andreji) ist der letztgenannte Neuzugang neben den drei bestens bewährten Dortmunder Stars die wirkliche Überraschung dieser Neufassung. Mit großer Aura porträtiert der Brasilianer den skrupellos ehrgeizigen und brutalen Militär.
Wang liebt große Corps de ballet-Szenen und hat mindestens eine hinzugefügt, wo vorher Solisten tanzten. Er choreografiert die Ensembleszenen dynamisch - zuweilen in unerträglichem Drill sowjetischen Massensports oder von Militärparaden. Das Volk steht im Vordergrund. Männer und Frauen treten in sperrigen bleigrauen Unisex-Plisseekleidern auf.
Die Bühne belässt Bernd Damovsky leer. Boden und seitliche Portieren an den Kulissengängen sind schwarz. Nur der Rückprospekt wechselt die Farben - berückend schön in den Soli der beiden Frauen: hellrosa bis rot für die verwirrte Natascha, wenn sie ihre Verliebtheit zu Andreji tanzt. Fliederfarben für die vom Ehemann verlassene Lisa. Ebenso kunstgewerblich wie die Kostümierungen von Elke Walter wirken die langen Reihen filigraner, putziger Lämpchen, die in Choreografien vom Schnürboden hoch- und niederschweben. Kleiderkörbe in Revierwaschkauen sollen sie darstellen. Eine reichlich plumpe „Regionalisierung". Dennoch bietet dieses theatralische Handlungsballett viel für Auge und Ohr.