Übrigens …

Der Schrank der Georgi im Theater Hagen

Synthese von gestern und heute

Noch bevor das Fußballspiel des Jahres in Berlin torlos in die Halbzeitpause ging, stand der Sieger des Abends schon fest: das Ballett Hagen zog mit der aufwändigen, großartig getanzten Premiere Der Schrank der Georgi die Zuschauer im nicht ganz voll besetzten Theater derart in seinen Bann, dass am Ende auch die verkappten Fußballfans minutenlang stehend applaudierten. Spätestens bei der schmissigen Serie von Duetten im Tango- und Sambarhythmus auf Darius Milhauds Tanzsuite Saudades do Brazil, die gar nicht so wehmütig klingt wie der Titel impliziert, hatte der brasilianische Ballettchef Ricardo Fernando alle Zuschauer auf seiner Seite: über Rios Copacabana, dem Zuckerhut und der weltberühmten Cristo Redentor-Statue schwebt ein schwarz-gelber Luftballon voller Fußbälle....

Charmante Details wie diese kleine Videomontage geben der „Tänzerischen Recherche" von Dramaturgin Maria Hilchenbach und Fernando den nötigen Pepp. So meistern sie den heiklen Balanceakt zwischen einer Dokumentation des Lebens der deutschen Ausdruckstanzlegende Yvonne Georgi (1903-75)  und der Wiederbelebung ihres tänzerischen und choreografischen Werks. Mühelos wird Fernando Georgis eigenem Anspruch gerecht, eine Synthese des Gestern und Heute zu finden.

Als Projekt des „Tanzfonds Erbe" von der Bundesregierung finanziell großzügig unterstützt, entstand das „Gesamtkunstwerk" aus Tanz, Rezitation, Filmausschnitten, Videoprojektionen und einem respektgebietenden Musikprogramm - vorzüglich einstudiert von David Marlow mit dem Philharmonischen Orchester Hagen, dessen Bläser bei der Premiere allerdings noch nicht ganz firm wirkten. Den kostbaren Kleiderschrank der Georgi mit den dramatisch geschwungenen Türen und voller Erinnerungsstücke aus ihrer internationalen Karriere gab es tatsächlich in der Wohnung der Wigman-Schülerin, die vor allem durch ihre jahrelange Partnerschaft mit Harald Kreutzberg und als Ballettmeisterin und Choreografin insbesondere in Hannover berühmt wurde.  Nicht verwunderlich also, dass es zahlreiche Duette zu sehen gibt. Dabei beeindrucken ganz besonders Melanie Lopez Lopez (Yvonne Georgi) und Brendon Feeney (Harald Kreutzberg).   

Eine liebevoll arrangierte Foyer-Ausstellung mit Requisiten, Kostümen, Programmheften, Porträts und kleinstformatigen Szenenfotos aus dem Theatermuseum Hannover zeigen einige Preziosen aus Georgis Schrank. Die Schau ergänzt die Aufführung, lässt aber auch erahnen, wie aussichtslos eine annähernd authentische Rekonstruktion ist, wenn zum Beispiel kaum mehr als Serien kleinster schwarz-weiß Schnappschüsse von Aufführungen zur Verfügung stehen. Fernando fängt solche Unzulänglichkeiten geradezu schlitzohrig genial ab, in dem er sich von Georgis choreografischen Ideen zu eigener Interpretation inspirieren lässt, vor allem bei Georgis Sacre du Printemps, dessen einstudierter erster Teil  den Beginn des Frühlings mit frisch sprießendem Gras zeigt und handfeste Geschlechterkämpfe auf der grünen Wiese. Immer wieder ringen die sieben Frauen mit den sieben Männern, demonstrieren die einen Willensstärke und die anderen physische Kraft.

Die Puppentheaterszenen aus  Petruschka  mit der zauberhaften Porzellanpuppen-Ballerina (Eunji Yang) und den Rivalen Mohr (Bobby Briscoe) und Petruschka (Shinsaku Hashiguchi) sind Fokines originaler Choreografie von 1911 deutlich nachempfunden. Besonders apart ist die Gegenüberstellung von Camille Saint-Saens' Sterbendem Schwan in Georgis Choreografie für einen barbrüstigen Mann im langen weißen Federrock (grandios: Huy Tien Tran) und Fokines Pawlowa-Version, die die elegante Japanerin Yoko Furihata wunderbar elegisch präsentiert.

Wie neugierig Georgi auf Neues war und völlig ohne Berührungsängste mit zeitgenössischer Musik und Bühnentechnik, überrascht vor allem in dem elektronischen Ballett Evolutionen auf Musik von Henk Badings, bei dem die Tänzer mit bunten Neonleuchtstäben kostümiert sind - was für ein Spaß! Eine ganz weite Anreise nach Hagen wert ist dieser beeindruckende Abend aber vor allem nicht nur für Tanzhistoriker, um Georgis Glück, Tod und Traum auf die Musik von Gottfried von Einem als veritable Rekonstruktion zu erleben. Dank einer privaten Spende stand ein Mitschnitt von den Wiener Festwochen 1961 zur Verfügung. Unübersehbar ist die Prägung durch Kurt Jooss, bei dem Georgi und Kreutzberg in Münster ihre Karrieren begannen. Ganz die Aura des Todes im Grünen Tisch verströmt der Schreiber, den der fantastisch wandlungsfähige Bobby Briscoe tanzt. Das pure Glück stellen Hayley Macri und Huy Tien Tran dar, den Tod Tiana Lara Hogan und Péter Matkaicsek und traumhaft schön schließlich Yoko Furihata und Brendon Feeney den Traum.  Bei diesem „Tanzfonds Erbe-Projekt gehen Rekonstruktion und „aktuelle Neufassung" Hand in Hand - alle Achtung vor dieser Leistung des Theater Hagen!