Lustvoll in den Schuh gespuckt
In Bronze gegossen steht er da, der Johannes Rau, und bewacht die Villa Horion. Zu trinken hat er reichlich: Ca. 4000 Plastik-Wasserflaschen gruppieren sich in naher und weiter Umgebung auf dem nach ihm benannten Vorplatz. Einige zielen wie Gewehrläufe aus Schießscharten vom Geländer des Fußgänger-Aufgangs zur Rheinkniebrücke. Aquamarin.40213 heißt das Außenprojekt, das Angie Hiesl und Roland Kaiser zum Auftakt der Internationalen Tanzmesse realisiert haben. Es handelt sich weniger um eine Choreografie, wie wir sie bei der Tanzmesse in unterschiedlichster Form zu sehen bekommen werden, als vielmehr um eine Installation. Eine Intervention in den Alltag der Stadt. 40213 ist die örtliche Postleitzahl, und um Wasser soll es gehen. In Sichtweite fließt ruhig der Rhein.
Inmitten des Platzes steht ein roter Sessel, aus dessen Sitzfläche ein breiter Wasserstrahl sprudelt. Von einer braunen Freitreppe, die zu keinerlei Ziel führt, aber in etwa den Farbton der Otto Normalbürger verborgen bleibenden noblen Stiege in der Villa Horion trifft, läuft ebenfalls Wasser - das ist hübsch und wirkt irgendwie beruhigend. Im Hintergrund: Sandsäcke, die eher dem Turnen dienen werden als der Eindämmung eventueller Fluten. Aus Lautsprechern, die sich vorwiegend in den umliegenden Bäumen, aber auch schon mal am Lenker eines Fahrrads befinden, blubbert es. Ungerührt steht Johannes Rau vor seinem ehemaligen Amtssitz als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und hält die Hand auf. Die Staatskasse hat’s immer noch nötig - mehr als zu Raus Zeiten, bedenkt man das erstaunlich muntere Deficit Spending in Zeiten guter Konjunktur, das die derzeitige Landesregierung betreibt. Auch der neue Oberbürgermeister Thomas Geisel schaut mal vorbei. Düsseldorf hat wieder einen Event.
Doch Hiesl/Kaiser wollen uns ja nicht nur eine Installation, sondern auch eine Performance zeigen. In einigen der rechteckigen Wasserdepots verbergen sich Tänzer. Plötzlich reckt einer von ihnen einen Arm hoch. Dann ein Bein - Synchronschwimmen ist nichts dagegen. Plötzlich Alarm: Ein Tänzer zerstört seine Skulptur, springt heraus, wirft mit zwei Flaschen um sich. Ein anderer befreit sich harmonischer. Und dann werden Hunderte von Flaschen auf dem Johannes-Rau-Platz in Formation gebracht. Das dauert gnadenlos lange, sieht aber immerhin hübsch aus, wenn’s endlich fertig ist.
An anderer Stelle kullern ein paar Glasflaschen in unterschiedlicher Größe über den Platz. Gern helfen die Kinder unter den Passanten bei der Beschleunigung. Einer der Performer skatet auf zwei zerdrückten Plastikflaschen. In Hiesl/Kaisers Ankündigung des Projekts ist von „Lust“ und „Neugier“ die Rede, die das Element des Wassers in uns wecke: „So effizient und kontrolliert die Wasserwirtschaft unseren Umgang mit dem Wasser auch gestaltet, so unverrückbar bleibt doch unsere sinnliche Beziehung zu H2O.“ Aquamarin.40213 ist die Weiterentwicklung des Projekts [in] VISIBLE, das derzeit als Kooperation zwischen fünf Theatern in der „Grande Région“ zwischen Saarbrücken und Lüttich zu sehen ist und das „Wasser als Lebensquelle, Wasser als Grundlage industrieller Entwicklung, Wasser als Handelsweg … und im Besonderen Wasser im alltäglichen urbanen Leben“ thematisiert. Auf dem Handelsweg tuckert gerade ein Containerschiff, und auf der kleinen Wiese hinter uns ist Mann am Spülen: Mit Mundkraft und Soundverstärker. In der Küchenzeile auf dem grünen Gras werden Teller und Schüsseln bei Berührung zu Musikinstrumenten. Wer’s morgen zu Hause probiert, kriegt Ärger mit der Hausfrau, wetten?
Eher Freude hätte die vielleicht an dem roten Sessel. Der ist das lustvollste unter den Wasserspielzeugen. Nacheinander geben sich zwei vollständig bekleidete Tänzerinnen in akrobatischen Verrenkungen dem Spiel des Wasserstrahls hin, und wenn sie auf dem Strahl sitzen oder hüpfen wie im Whirlpool, wenn sie ihren Körper massieren lassen vom feuchten Element, dann erinnert das auch an lustvolle erotische Spielchen, obwohl der Strahl zu stark und vermutlich auch das Wasser zu kalt ist für wirklich anregende sexuelle Stimulation.
Statt Lust hatten wir zuvor auch Verzweiflung gesehen. Bei den Sandsack-Turnern nämlich. Immer wieder springt der Performer auf - und rutscht wieder ab. Unweit davon liegt ein anderer Tänzer auf dem Boden und singt melancholische, an die arabische Welt erinnernde Laute ins Megafon. Nach der Hälfte der 90minütigen Aufführungsdauer wird auch getrunken - und wieder ausgespien. Unter gleichzeitiger Ausübung eines Kopfstandes. Der Performer ist für das Clowneske, das Komische in der Aufführung zuständig. Er spuckt sich die Getränke in die Schuhe, in Hosen- und Jackett-Taschen. Kurz später hängt er sehr unglücklich am Laternenpfahl des Mannesmann-Ufers. Er hat die lustigsten, aber auch die nachdenklichsten Szenen, und er bekommt die amüsierteste Reaktion des Publikums.
Das besteht zum weit überwiegenden Teil aus zufälligen Passanten. So soll es sein bei einer Intervention im urbanen Raum. Wie das Publikum reagiert, ist die Aufführung hinter der Aufführung. Natürlich gibt es da Ratlosigkeit. Offenbar werden aber auch viele Menschen von der Fremdartigkeit des Geschehens in ihrem alltäglichen Umfeld gefangen genommen. Sie schauen interessiert hin, wundern sich über die „Störer“ oder haben Freude daran. „Das ist ja krass“, lacht ein körperbehinderter junger Mann begeistert und antwortet auf die Frage seines Begleiters, ob er eine Weile zuschauen möchte: „Nö.“ Unzählige Handykameras werden gezückt - während einer der Performer mit besagten Synchronschwimmer-Verrenkungen sich seinem Plastikflaschengefängnis entwindet, liegt drei Meter vor ihm ein professioneller Fotoreporter auf dem Boden und macht die gleichen Verrenkungen fürs beste Bild. Ältere Damen sprechen die Performer mitten in der Aufführung an und lassen sich erklären, was sie sehen. Wir wären nicht in Deutschland, wenn nicht gleich eine erkleckliche Anzahl von Zuschauern enttäuscht bemerken würden, dass die Inszenierung ja gar keine Kritik an Ressourcenverschwendung äußern würde, sondern einfach nur zweckfrei sei: Lust, Neugier und Gucken was passiert statt Weltverbesserungsimpetus mit erhobenem Zeigefinger - das geht doch nicht! Zwei Kampfradler stieren grimmig geradeaus und klingeln die im Weg arbeitenden Performer böse an. Und natürlich ist auch Ekel Alfred da, der schlecht gelaunte, intolerante und kunstfeindliche Frührentner, der sein eigenes mickeriges Leben nicht verarbeitet hat: „Was für eine Verschwendung! Und die Stadtkasse bezahlt das alles - wo sind wir nur hingekommen!“ kräht er. Und guckt Ewigkeiten lang zu. - Ganz nebenbei zeigt „Aquamarin“, diese mal poetische, mal amüsante, mal lustvolle, mal langweilige Alltags-Intervention auch: Deutschlandbilder.