Übrigens …

Alltägliche Apokalypsen im Köln, Freies Werkstatt-Theater

Die Zufriedenheit mit dem Strumpf in der Schubkarre

Wenn „Goethe in der Morgenröte“ an so manchem Abend spöte auf dem Nachttopf saß und seine Morgenzeitung las, schrieb er, wie wir Kinder glauben machen, manch absurde Verse. „Ich habe einen Vogel im Felde lieber als einen Strumpf im Schubkarren“ allerdings ist eine tiefsinnige Sentenz, die wir unseren Nachkommen nicht als angebliches kulturelles Erbe des großen deutschen Dichterfürsten verkaufen können, sondern dem französisch-rumänischen Dramatiker Eugène Ionesco zuschreiben müssen. Mrs. Martin in “Die kahle Sängerin” hat eine ganze Latte solcher philosophischen Überlegungen auf Lager, und wenn Mr. Smith feststellt: „Das Auto fährt schnell, aber die Köchin kocht besser“, sind wir doch wieder ganz nah des vorgeblichen Goethes Kinderversen. Da legst di nieda: „Kujoniere die Kanoniere!“

Aber werden wir endlich ernst. Um mit dem Dichter zu sprechen: Lieber ein Gelage in einem Gehege als ein Gelege in einem Gelalle. Man bringt eine Brille nicht zum Glänzen mit schwarzer Wichse: Wenn wir so weitermachen, blickt der geneigte Leser am Ende gar nicht mehr durch, wenn Maria Litvinova und Viacheslav Ignatov Alltägliche Apokalypsen inszenieren. Was so schlimm auch nicht wäre, denn: „Ins Theater darf man nicht das logische Denken einlassen“, heißt es da. Das sollten sich all die Nörgler im Parkett mal merken, die dauernd an irgendwelchen krausen Regietheater-Aufführungen herummäkeln!

Es ist zunächst schon ziemlich lustig, was die beiden Impresarios vom preisgekrönten Moskauer Trikster Theater im Freien Werkstatt Theater Köln auftischen: in einem internationalen Kooperationsprojekt mit einem russischen Regie-Team, deutschen, russischen, bosnischen und brasilianischen Schauspielern, einer kolumbianischen Choreografin und Texten des französisch-rumänischen Meisters des Absurden Theaters. Die Herkunft, so sagt das Leitungs-Team der Inszenierung, ist nur einer der Faktoren, die den kulturellen und gesellschaftlichen Rahmen definieren, der die Entwicklung des Menschen begrenzt. In einem solchen Rahmen ist ein jeder Mensch gefangen, von einem solchen Rahmen wird er aber auch stabilisiert. Er kann zum schützenden Panzer, zum Schneckenhaus oder auch zur Komfortzone werden. Berufs- und Familienleben spielen sich in einem solchen Rahmen ab, aber auch die gesellschaftliche und politische Verankerung des Menschen determiniert seine Grenzen. Und so schleppen denn die fünf Tänzer und Schauspieler dieses Abends permanent ein solches Kreuz … Verzeihung: einen solchen Rahmen mit sich herum. Manchmal werden diese Rahmen zu einem Quader in Form einer antiken Telefonzelle zusammengesetzt, doch zu lösen vermögen sich die Menschen daraus kaum. Und wenn: Dann fallen sie aus dem Rahmen. Eine unsichtbare Kraft scheint sie zurückzuhalten - ihre Ängste vor der Freiheit? Mit dem Vogel im Felde ist das so eine Sache: Der Strumpf im Schubkarren ist vielleicht doch die sicherere Alternative.

 Litvinova und Ignatov haben in ihrem Kooperationsprojekt für das Svetlana Fourer Ensemble ein hochpoetisches, skurriles und in der musikalischen Gestaltung charmant französisch angehauchtes Crossover-Projekt geschaffen. Die interdisziplinäre Inszenierung arbeitet mit Elementen des Schauspiels, des Tanzes, der Pantomime und des Schattenspiels; beschwingte, melodische Musik, geradezu zirzensische Szenen sowie großartige, mal poetische und mal rasante Tanzeinlagen und hübsche Schattenspiele fesseln Auge und Ohr. Die beiden Paare aus Ionescos „Kahler Sängerin“ erzählen einander Anekdoten aus ihrem Leben, absurd und unterhaltsam - doch im Grunde verfehlen sie einander. Nach vielen witzigen Episoden ist Raphael Souza Sá als „Mr. Martin“ an der Reihe, seine Geschichte zu erzählen, und erstmals wird die Aufführung ernst: Martin schickt seine Zuhörer aus dem Raum und berichtet von der Verschmelzung der Menschheit mit ihrer gesellschaftlichen Funktion und der dadurch bedingten Entmenschlichung der Gesellschaft. Seine Erzählung ist keine Anekdote, sondern eine Reflexion. - Danach sind die Rahmen plötzlich bespannt. Der Mensch ist dahinter verschwunden, taucht als Silhouette, als Schattenriss noch einmal auf. Eine Tänzerin vor dem bespannten Rahmen tanzt mit dem Schatten dahinter - und sinkt zu Boden. Der Mensch, der sich aus dem Rahmen nicht zu lösen vermochte, verschwindet, ohne in seinem Innersten erkannt worden und ohne je voll zur Entfaltung gekommen zu sein.

Das alles erlebt der unbedarfte Zuschauer als unterhaltsame, harmonische, ja: fast ein wenig dekorative Geschichte. Dabei hatten die Theatermacher doch angekündigt, mit ihrer Inszenierung auch auf die politischen Absurditäten ihres Heimatlandes aufmerksam machen zu wollen. Svetlana Fourer hatte zuvor in einem WDR-Interview beschrieben, dass sich Ionescos Absurdes Theater ganz besonders eigne, verschlüsselte Botschaften und Signale auszusenden. Was wohl heißen sollte: auch in einem politischen System mit eingeschränkter Presse- und Kunstfreiheit Kritik zu äußern. Und plötzlich sehen wir die Parallelen zum Theater der DDR in den letzten Jahren vor dem Zerfall des dortigen Regimes: Auch dort erkannte das geschulte Publikum im Unterdrücker-Staat Anspielungen und Pointen, die dem im demokratischen Westen sozialisierten Zuschauer entgingen. Schauen wir also neu auf Litvinovas und Ignatovs harmlos-unterhaltsame Absurditäten-Revue:

Umfragen zufolge erfreuen sich in diesen politisch konfliktären Zeiten ca. 90 % der russischen Bevölkerung lieber eines sicheren Strumpfes im Schubkarren als des Genusses von Freiheit auf dem Felde. Anstelle eines emanzipierten Individualismus herrscht Anpassung an den politisch gewünschten Mainstream - also Mr. Martins Verschmelzung des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Funktion. Als auch das Dienstmädchen Mary (kokett und selbstbewusst: Ida Keški?) eine Anekdote erzählen möchte, wird dies als „unschicklich“ zurückgewiesen. Ist die Ermunterung durch eine Minderheit nicht ein Aufruf zum Widerstand? - Ein Text aus Ionescos „Delirium zu zweit“ taucht auf, das Spiel von der Schnecke und der Schildkröte. Bei Ionesco handelt es sich zunächst um einen endlos währenden Ehekrieg, der dann jedoch in einen Umsturz der Welt übergeht. Schneckenhaus und Schildkrötenpanzer - die Menschen suchen Halt in ihren von Erziehung, Charakter und Lebenserfahrung vorgegebenen Rahmen, geben sich auf eskapistische Weise ihren privaten Eheschlachten hin, während draußen der Wahnsinn ausbricht. Eskapistisch wirkt in diesem Zusammenhang auch die Szene aus Ionescos „Die Stühle“, in der der Mann davon berichtet, wie er seine Mutter im Straßengraben sterben ließ, weil er in Eile war: Er musste auf einen Ball, zum Tanzen. So ist das halt: An der ukrainischen Grenze sterben die Soldaten, doch Putins Menschen tanzen rittlings über den Gräbern …

Mit zunehmend irrer werdendem Blick spricht Julia-Lena Lippoldt den Monolog des größenwahnsinnigen, zum Abdanken gezwungenen und längst geistig verwirrten Diktatoren aus Ionescos „Der König stirbt“: "Ich will, dass man sich an mich erinnert, man nach mir ruft. Ich will die Hostie sein und dass alle Straßen, Gebäude und Neugeborene meinen Namen tragen." Die Anspielung versteht auch der unpolitische West-Bürger im paradiesischen Köln: Von dieser Figur scheint auch der gegenwärtige König von Russland nicht mehr weit entfernt.

Ein beeindruckender Tanz um die Vormachtstellung beendet die Aufführung. Ein Kampf, an dessen Ende alle niedersinken. Ist es die Vergeblichkeit des Widerstandes oder ist es ganz einfach der Schluss eines wunderbaren Kunst-Ereignisses? Das mag man interpretieren wie man will. Denn die Aufführung lässt sich als unanstrengende, unterhaltsame Absurditäten-Revue genießen, oder man strengt sich an und sucht nach eventuellen politischen Bezügen. Große Freude bereitet beides.