Atemholen vor dem Weltdesaster
Dortmunds Ballett-Chef Xin Peng Wang, der einen Boom für diese Sparte dort auslöste, geht mutig seinen Weg. Er „übersetzt“ große literarische Werke in die Tanzsprache. Nach Der Traum der roten Kammer, Geschichten aus dem Wienerwald, Krieg und Frieden und h.a.m.l.e.t wagt er sich nun an Thomas Manns gewaltig-opulenten Fin-de-Siecle-Roman Der Zauberberg von 1924. Die Choreographie – mit insgesamt großartigen und technisch bestens ausgerüsteten Tänzerinnen und Tänzern – hinterlässt im assoziativen Bühnen-Bilderreichtum (Frank Fellmann) einen zwiespältigen Eindruck. Stühle tanzen vom Himmel herab, Sterne mutieren zu Textbuchstaben, eine Schnee-Kälte-Region schimmert mal von fern, mal rückt sie in eisigen Lichtschneisen mitten ins Geschehen. Das ist imponierendes sinnliches Theater.
Starke Szenen entwickelt Xin Peng Wang, wenn er Studien der Angst, der Verzweiflung, der bemühten, ja scheuen menschlichen Nähe im Schweizer Sanatorium im Angesicht der kalten Alpenlandschaft analysiert. Xin Peng Wang rückt seine magische Mann-Interpretation an das historische Zeitgeschehen heran. Die Schüsse von Sarajevo fallen, Soldaten erstürmen zum bitteren Ende das idyllische Terrain – der erste Weltkrieg, diese europäische Katastrophe vor 100 Jahren, beendet eine Epoche. Sie sinkt ins Grab der Zerstörung und des Wahnsinns. Der Zauberberg verliert seine heilenden, suggestiven Kräfte. Die Menschheit röchelt nach einem letzten Atemholen am Fuße der Dreitausender. Wie der Inszenator akustisch flankierte Lungen-Röntgenaufnahmen mit quälenden Endzeit-Visionen verknüpft, ringt Bewunderung ab.
Doch dagegen stehen ziemlich blasse Partien, wenn es um Sympathien und Beziehungen der Mannschen Handlung geht. Hans Castorp, der Held des Romans, sucht schließlich aus freien Stücken dieses Totenhaus auf, um eine existenzielle Erfahrung auszuleben. Xin Peng Wang weiß natürlich, dass private, individuelle Erfahrungen das Herz tiefer treffen als allgemeine Kommentare zu einer geschichtlichen Situation. Aber genau diese Zweier-, Dreier- oder Fünfer-Gruppierungen könnten überall hinein passen – sie bleiben für den Zauberberg meistens zu schwach und allgemein. Auch die possenhafte Maskerade von Castorps Traum wirkt kaum visionär und erschütternd
Was aber ebenfalls einen tiefen Eindruck hinterlässt, ist die Musik des estnischen Komponisten Lepo Sumera (1950 – 2000). Zwischen Klaviersolo und großem Orchestereinsatz trifft die Partitur, der sich der japanische Dirigent Motonori Kobayashi mit höchster Intensität widmet, die Kühle, die Kälte, die Sehnsucht und zugleich die Verzweiflung der Menschen. Diese bisher unbekannte Musik ist eine Entdeckung. Sie hinterlässt in ihrer psychischen, irisierenden und zitatengeschwängerten Konsequenz Gänsehaut beim Publikum. Dortmunds Philharmoniker bilden mit feiner Sensibilität die Katastrophe Europas ab.
Wer wer ist und welchen Typus (im Roman) er verkörpert, bleibt in der Regel in Xin Peng Wangs Ensemble-Choreographie ungesagt oder allenfalls angedeutet. Der 800-Seiten-Roman fordert seine Opfer… Ihn interessieren mehr die Tableaus und die Panoramen von Krankheit und Tod. Dennoch bleiben einige Partien haften: Harold Quintero Lopez als Castorp, der Suchende, Emilie Nguyen als Madame Chauchat, die so gern leben (und lieben) möchte, Dann Wilkinson als Ziemßen, verwandt mit Hans Castorp, Jelena-Ana Stupar als Patientin Nelly. In ihnen erreicht der Ballettdirektor das Niveau eines Staatsballetts. Wer hätte das noch vor ein paar Jahren sich in Dortmund vorstellen können?!
Aber auch in kleineren Rollen sieht man auftrumpfende Figuren: Sie können sich gegen die opulente Bilderflut (Lichtdesign von Carlo Cerri) eines urgewaltigen Multimedia-Epos´durchaus behaupten.