Übrigens …

b.22 im Theater Duisburg

Im Dickicht des Menschseins

Auf den ersten Blick könnten die Gegensätze kaum größer sein zwischen Jerome Robbins' asketischem Ballett Moves von 1959 für ein Dutzend Tanzende in bunten Balanchine-Badeanzügen oder Freizeitklamotten und Martin Schläpfers vielschichtig opulenten Choreografien verwundert seyn - zu sehn (2015) und Ein Wald, ein See (2006), die das neoklassische Meisterwerk des Amerikaners in dem Programm b.22 des Ballett am Rhein umrahmen. Körper contra Kopf möchte man fast sagen. Aber das würde Robbins' „Ballet in Silence" nicht gerecht werden. Seine Besonderheit verdankt dieses musiklose Tanzstück dem Umstand, dass Aron Copland sein Auftragswerk nicht rechtzeitig lieferte. Ein Glücksfall, möchte man fast sagen. Denn wie kostbar ist die völlige Konzentration auf die Bewegung der sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer, die eine stringente, ebenso unterhaltsame wie bewundernswert akkurate „hohe Schule" des neoklassischen Balletts vorführen - was oft geradezu wie ein „mechanisches" Ballett wirkt, das an Oskar Schlemmers geometrisch rigide Körpersprache erinnert oder an Skulpturen der klassischen Moderne, aber doch immer wieder auch menschliche Regungen und Beziehungen signalisiert.    

Schläpfers neues Ballett verwundert seyn - zu sehn gibt viele Rätsel auf. Mehr als sonst spielt der Schweizer mit Magie, Poesie und realen Charakteren. Ausgangspunkt seines Konzepts sind philosophische Gedanken und Texte von Arthur Schopenhauer, woraus auch der Titel stammt. „...verwundert seyn, zu sehn, dass Das, was sie (die meisten Menschen) so ungeachtet und ungenossen vorübergehn ließen, eben ihr Leben war, eben Das war, in dessen Erwartung sie lebten", formuliert der Philosoph in seinen Kleinen philosophischen Schriften und schlussfolgert: „... so ist denn der Lebenslauf des Menschen, in der Regel dieser, daß er von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt".

Als prächtig geschmückter afrikanischer Stammesfürst betritt Yuko Kato im gleißenden Scheinwerferkegel die kahle Bühne, stellt ein winziges silbernes Glöckchen auf dem Boden ab und schreitet zurück in die Kulissen. Von hinten arbeiten sich diagonal zur Bühnenmitte Marcos Menha - schmächtig mit durchtrainiertem, weiß-blassen Körper - und Chidozie Nzerem - markig muskulös, dunkelhäutig. Die beiden so gegensätzlichen, grandiosen Tänzer bilden ein eng verschlungenes, mit einander ringendes Menschenknäuel, das eine sinnlich erotische Aura verströmt. Als sich Ann-Kathrin Adam nach dem hellen Klingeln des Glöckchens schließlich zart und heiter wie eine Fee des Guten zwischen das Paar schiebt, hat den Ringkampf (vorerst) ein Ende. Zu Tode erschöpft sinkt Menha nieder. Immer wieder aber entbrennt der Kampf um die Seele des jungen Mannes. Louisa Rachedi animiert - wieder klingelt's - mit kokett schwingendem, türkisfarbenen Plisseeröckchen über Keso Dekkers raffiniertem Trikot für alle Damen dessen Lebenslust zu den heiter perlenden Klängen von Liszts Walzer Le bal de Berne. Camille Andriot - hinreißend „wild" mit ungebändigter Löckchenpracht! - lockt mit schlangengleichen Verführungskünsten, Wagners Venus nicht unähnlich. Lautlos tauchen geisterhafte Gestalten wie Phantasmagorien düsterer Mächte des Unbewußten auf aus dem Bühnendunkel und müde Waldläufer wie Karikaturen von Joggern. Was - so untypisch für Martin Schläpfer - geradezu wie ein dramatisch zelebriertes Ballettmärchen anmutet, ist aus Sicht des Choreografen der innere Monolog eines Menschen.

In das „Dickicht des Menschseins" entführt Schläpfer das Publikum am Ende des dreiteiligen Abends auch mit der Neueinstudierung des düsteren Naturschauspiels Ein Wald, ein See von 2006. Kleidet Catherine Voeffray die Damen des 15-köpfigen Ensembles hier in asymmetrisch geschnittene, unfertige Abendroben und die Herren in schwarze Lederkluft mit Punkfrisuren wie ein ominöses, drogen-geschwängertes Disco-Völkchen, so ist die Nähe zu gurrenden und kreischenden Sumpfvögeln unter einer schwebenden Konstruktion aus metallisch glänzendem, quer und längs verwobenen Gestänge immer präsent als Chiffre für den menschlichen „Dschungel aus innerlichen Untiefen". Auch hier also geht es Schläpfer, wie in der Auftaktchoreografie, um Verwirrung und Entzerrung menschlicher Gefühlsebenen. Brillant begleitet der weißrussische Pianist Denys Proshayev die drei Szenen der Uraufführung mit zwei Sonaten von Alexander Skrjabin und Franz Liszts Walzer. Eine ganze Batterie ungewöhnlicher Instrumente von Wassertrommel bis Hathway-Gitarre, slowakische Hirtenflöte und rau kehligem Gesang setzt Komponist Paul Pavey für seine live präsentierte Klanglandschaft zu Schläpfers Naturbildern ein.

Schläpfer schafft in seinen beiden Balletten eine Aura und Szenarien wie man sie bisher kaum von ihm kannte. Der Tanz ist von höchstem technischen Anspruch und (natürlich wieder) frappierender Originalität und exquisiter tänzerischer Qualität, aber gelegentlich auch schockierend banal bis hin zu Anmutungen zum Jazzdance in den Gruppenszenen der aufmüpfigen Sumpfkreaturen in Ein Wald, ein See. Ist es Weltwut, die sich hier derart dynamisch Bahn bricht? Oder geniale Sicht auf menschliche Irrungen und Wirrungen im allzu lauten, hektischen Heute?