Charlotte Salomon - Der Tod und die Malerin im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Ein deutsches Schicksal in düsterster Zeit

Es war eines jener grauenvollen deutschen Schicksale. Die Eckdaten sagen schon viel: geboren 1917 in Berlin, gestorben 1943 in Auschwitz. Dazwischen liegt die Odyssee der deutsch-jüdischen Malerin Charlotte Salomon auf der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit. Ihr ständiger Begleiter: der Tod.

Nach dem Selbstmord der Mutter flieht sie vor den Nazis zu den Großeltern nach Frankreich, muss den Selbstmord der Großmutter erleben und die eiskalte Analyse des übergroßen Großvaters, auch sie werde so enden. In einem Aufbäumen gegen das todesschwangere Leben um sie herum entstehen innerhalb von nur zwei Jahren weit über eintausend kleinformatige Gouachen. Blutrot, sonnengelb und ein tiefes Himmelblau waren Salomons bevorzugte Farben. Düstere Töne beherrschen oftmals Hintergrund und Seitenpartien ihrer Bilder. Expressionistisch ist der Stil, die Nähe zu van Goghs gestrichelten Feldern und Wiesen unübersehbar, aber auch der plakative bunte Witz von Comics. Das Herzstück der Sammlung bildet das autobiografische Singspiel „Leben oder Theater?" aus 769 Bildern mit Texten und kurzen musikalischen Zitaten, vorwiegend aus so bekannten Werken wir Glucks „Orpheus und Eurydike" (Ach, ich habe sie verloren), Carmens „Habanera" - und natürlich Schuberts Lied „Der Tod und das Mädchen". Breiner und DiGucci wählten in enger Zusammenarbeit einige Schlüsselszenen aus diesem Singspiel aus und schufen ein eindrückliches Szenario, das im zweiten Teil an Dichte und Intensität gewinnt.

Es ist ein schmaler Grat, auf dem die junge Künstlerin sich bewegt. Weit reicht ein Laufsteg ins Zuschauerparkett. Die grandiose Kusha Alexi - nach dem offiziellen Ende ihres Engagements gastiert sie als Charlotte - reckt und streckt sich, blickt auf den dünnen Papiervorhang, der heitere Ferientage verspricht: Weit reicht das Meer, kleine weiße Schaumkronen hie und da. Allmählich wogt das Wasser, Buchstaben und Worte tauchen aus der Tiefe auf. Plötzlich ist da Bedrohung. Hakenkreuzfahnen, Aufmärsche am 30. Januar 1933, Beginn der Naziherrschaft. Angstvoll durchbricht die junge Frau das Bild, gelangt durch den leicht schräg hängenden Holzrahmen in ihre Bilderwelt, durch die der Tod majestätisch geistert (Jonathan Ollivier) - Bilder ihres Lebens mit Eltern und Kameraden hinter grotesken Masken inmitten dieses Wahnsinns. Zu Valentin Juteaus Solo erklingt der zackige Militärmarsch „Die Fahne hoch..." Wenig später wabern schwarze Rauchschwaden und ätzender Gestank durch den Raum: Kristallnacht (infernalisches Solo von Franscesca Berruto). Eine schöne, aber eher sanfte Carmen in gelber Robe mit langer Schleppe (Mezzosopranistin Anke Sieloff) schreitet über die Bühne, begleitet von einem Pas de deux (Nora Brown, José Urrutia): die Sängerin Paula Lindberg (sehr charmant und elegant geschmeidig tanzend: Ayako Kikuchi) erobert als Charlottes Stiefmutter ihr Herz. In den Gesangslehrer Daberlohn (Junior Demitre) verliebt sie sich Hals über Kopf. Er attestiert ihr eine große Karriere dank ihres „überdurchschnittlichen Talents" - und sie ahnt: „Ich hab' schrecklich wenig Zeit".

Die will sie, geflohen zu den Großeltern, nutzen. Nicht wirklich aus Fleisch und Blut, sondern wie hohle Pappkameraden - zierlich und riesig - treten sie ihr gegenüber. Von fern erklingen Fetzen von „Freude, schöner Götterfunken". Eine Illusion. Bestürzend schnell und grausam folgt der Selbstmord der Großmutter (Rita Duclos) auf einem gusseisernen Doppelbett. Kalt überlässt der Großvater Charlotte sich selbst.

Lange schwebt ein weißes Blatt über der Szene. Schließlich aber beginnt Charlotte ihr Leben in Bildern zu erzählen. Hastig, gehetzt blättert eine Geisterhand durch das dicke Buch, das nun entsteht. Dann bricht das Leben zusammen. In einem wilden Paukentanz mischen sich Flüchtende und Henker. Auf Koffern sitzend, ein Leichentuch straff als Tischplatte haltend und gestikulierend sitzen Maskierte zusammen - eher eine beklemmende denn sarkastisch satirische Reverenz an Kurt Jooss' Antikriegsballett „Der Grüne Tisch". Noch wehrt sich Charlotte gegen die Attacken des Todes (brillanter Pas de deux!). Sie verschließt die Augen, rettet sich auf ihre kleine Insel. Vielleicht kann sie die Balance halten auf dem schmalen Grat und unentdeckt überleben.

Michelle DiGucci hat eine packend theatrale Partitur für Breiners (etwas textlastiges, akustisch unbefriedigendes, aber sonst) großartiges Ballett in der fulminanten Ausstattung von Jürgen Kirner komponiert. Die Neue Philharmonie Westfalen und das Sängersextett musizieren unter Valtteri Rauhalammi leidenschaftlich. Das Ballett im Revier gewinnt immer mehr Profil. Jubel und Respekt des Premierenpublikums waren einhellig für alle Beteiligten.

Ergänzt wird der Theaterabend ab 28. Februar von einer großen Bilderschau im Museum Bochum.