Storm in Africa
Acht verschiedene Städte, siebzehn zum Teil grundverschiedene künstlerische Positionen und Performances - das ist das Festival tanz nrw 15, das vom 16. - 28. April 2015 einen Querschnitt aus dem Schaffen der freien Tanz-Szene in NRW zeigte. Felix Bürkles You, the other übernahm die Funktion des Fußball-Turniers im Programm der Olympischen Spiele: Er durfte schon vor Beginn der Eröffnungsfeier loslegen. Als offizielle Eröffnungsveranstaltung galt Corps Étrangers von der Kölner Lokal-Matadorin Stephanie Thiersch.
Thiersch gilt als eine der Nachdenklichen und Intellektuellen unter den Tanzschaffenden. „Was heißt Modern sein?“, fragt sie zu Beginn der Vorstellung per Leuchtschrift - und in der Tat ist das, was wir sehen, modern in der Art der Darstellung, aber alles andere als modern beim Sujet des Dargestellten. Ein Tänzer mit nacktem Oberkörper, den Kopf mit einem dicken Seil umwickelt, schwingt über dem Boden. Er krabbelt verloren auf dem Boden, steht auf, wirkt wie ein Suchender, ein Entwurzelter, ein mit Blindheit geschlagener Mensch - vielleicht auch ein Mensch, der sich vor lauter Evolution einen Knoten ins Hirn gedacht hat und den Zauber der Welt nicht mehr wahrnehmen kann. Ein Mensch, der vielleicht verzaubert ist - verhext müsste man besser sagen, denn er findet nicht den Weg zur Natur, zum animalischen Genuss. Vielleicht. Denn was folgt, ist die „Entzauberung“. Die Rückkehr ins Neandertal, in die Urwälder, in den Naturzustand der Welt vor ihrer Zerstörung durch menschliches Denken und Industrialisierung: vor der Moderne. Von Animismus will die Performance erzählen, wie wir dem Programmzettel entnehmen, von dem „Bekenntnis zu Kindheitserlebnissen, deren Durchsetzung das Projekt der Moderne in Frage stellte“.
Grillen zirpen, Käuzchen schreien. Die fünf Performer beginnen einen Tanz zu Urwaldgeräuschen. Auch ihre Bewegungen sind die von Tieren des Urwalds - bis hin zu einem angedeuteten Liebesspiel. Drei Seile hängen vom Schnürboden herab und bilden mit einfachsten Mitteln eine Art Schlingpflanze. Vor der hinteren Bühnenwand sehen wir ein objet d’art, das an einen Flamingo oder einen Vogel Strauß erinnert. Längst haben sich die menschlichen Körper in corps étrangers verwandelt, in menschliche Vierfüßler, in Käfer, die aufeinander herumkrabbeln, in Löwen und Fabelwesen, in wilde und in zahme Tiere - in Kreaturen, die in Freiheit leben jedenfalls. Diese Rückgewinnung von Natur und Freiheit birgt aber auch Gefahren: Die Urwaldgeräusche mischen sich mit dem Rauschen des Meeres an der Küste. Der Wind steigert sich zur steifen Brise, zum Sturm. Die an den immer heftiger schwankenden Seilen kletternden Gestalten, der bedrohliche Soundtrack entwickeln eine suggestive Wirkung: Man sieht die Bilder des Sturms vor dem geistigen Auge, man fühlt sich ausgesetzt der Gefahr. Am Boden turnen die Performer wie flatternde Blätter im Wind.
Abrupt endet der Sturm. Der Seiltänzer lässt sich zu Boden; die übrigen Performer liegen dort wie erschlagen. Diverse Versuche aufzustehen schlagen zunächst fehl. Dann spielen sie das alte Vertrauensspiel, im Theater schon oft gesehen: Die Tänzer lassen sich fallen in die Arme der anderen. Doch einmal geht das schief: Wie zerschmettert liegt der Mutige am Boden. Wir sehen die Trauer der anderen, erleben eine Art archaischen Bestattungsritus. Stille setzt ein - und dann, ganz leise, hören wir wieder das Rauschen des Meeres, das Zirpen der Grillen. Reinigungsrituale; ganz langsam erfolgt die Rückkehr zur Normalität.
„Wir sind nie modern gewesen“, heißt der dritte Teil der Aufführung. Ein Vogelmann stolziert über die Bühne, Löwen hängen am Seil, später ein Skunk von einem Ast. Die Sturmgeräusche schwellen wieder an; in wildem Hin und Her schwingt der Vogelmann am Seil. Drei Mann in einem Boot rudern choreographisch vorbei, mit Tiermasken und Hörnern. Zwei Performer formen Schlingen aus den Seilen - es wirkt, als wolle man den Tieren einen Suizid ermöglichen. Aber ist es nicht genau das, was den Menschen vom Tier unterscheidet - die Möglichkeit zum Suizid? Krause Gedanken , die einem bei dieser Performance kommen. Die in ihrem vierten Teil sowohl religiöser als auch ironischer zu werden scheint: Einer der Tänzer wird in einer Art Tempel zum Heiligen verkleidet; zu dieser Maskerade tanzen Cheerleader mit Puscheln, spitzen Brüsten und angedeutetem Reifrock. Wenn nicht alles täuscht, arbeitet die Aufführung nun sogar mit Gerüchen wie aus einem Tempel. Wir sehen Potenz- und Fruchtbarkeitssymbole. Die Kreaturen haben ihre „Abschlussprüfung“ wohl bestanden.
Was Thiersch und ihre akrobatischen Tänzer uns in ihrer bildstarken Inszenierung zeigen, sind Kämpfe und Liebesbezeugungen, sind Rituale und Trancen, rituelle Traditionen von exotischen Volksstämmen. Es sind auch Darstellungen der Natur, die dem Menschen und dem Tier mal freundlich und mal feindlich gesinnt ist. Wir unternehmen eine Reise in eine fremde, archaische, exotische Welt. Das hat etwas von Folklore; andererseits wirken die Wucht und der Nervenkitzel der akrobatischen Darstellungen und der rasante Soundtrack jedem Kitschverdacht entgegen. Die Bilder sind voller Phantasie, oft auch ungeheuer poetisch. Die Akrobatik ist zirkusreif. So lässt sich der Performance ein großer Unterhaltungswert nicht absprechen. Ihre gesellschaftliche oder gesellschaftspolitische Relevanz dagegen ist dem Schreiber dieser Zeilen verborgen geblieben. Im Programmzettel ist ein Essay des Anthropologen Alf Hornborg zum Animismus zitiert, dem der Schreiber nicht folgen möchte. Immerhin mag man den Schlusssatz gelten lassen: „Unvernünftig wäre es nur, das Unvernünftige ganz abschaffen zu wollen: Karneval und (Gruppen-)Ekstase sind uralte Kulturphänomene und womöglich überlebensnotwendig für das einzige Tier, das Sinn und Unsinn zu unterscheiden versucht.“ Nun, wenn das Unvernünftige so unterhaltsam, so bizarr und poetisch ist wie bei den Corps Étrangers“ dann vermissen wir die Relevanz nicht allzu sehr …