Mit einem Augenzwinkern
Was ist so „süß" an Shakespeares Tragödie Othello? Und was so "“tragisch" an Kevin O'Days Bäumchen-wechsel-dich-Spiel ...with the lights on? Welche „süße Tragödie" verbirgt sich hinter Marco Goeckes Tanzstück Sweet, Sweet, Sweet für 99 oder ein paar mehr schwarze Luftballons und ein Dutzend gut gelaunter Tänzer? Spekulationen beflügelt der gebürtige Wuppertaler, langjähriger Stuttgarter Hauschoreograf, der nun beim Nederlands Dance Theatre engagiert ist, mit seiner Widmung für Leander Maximilian Goecke: Ist's ein früh verstorbener kleiner Bruder oder Sohn oder Ehemann? Wie dem auch sei: nehmen wir den Titel des neuen Gelsenkirchener Ballettabends nicht zu wörtlich und genießen einfach die großartige kleine Truppe von Bridget Breiner, die sich selbst wieder mit geballter Energie und Brillanz als Tänzerin und Choreografin profiliert.
Neu zugeschnitten auf ihre aktuelle Kompanie hat die Amerikanerin The Tragedies of Othello - ein großer Wurf! Shakespeares Tragödie hat sie auf die fünf Protagonisten reduziert und sich ganz auf deren emotionale Befindlichkeiten konzentriert. So gewinnt sie dem Drama sowohl in der Dramaturgie als auch in der Charakterzeichnung durch ihre variable Tanzsprache ganz neue Akzente ab, die die Tänzer vorzüglich übermitteln. Ein wahrer Despot ist Othello (Ordep R. Chacon), ein völlig verstörtes Seelchen Desdemona (Rita Duclos), Cassio ein unschuldig verspielter Beau, der beide Frauen hofiert (José Urrutia), Jago ein brutal aggressiver, skrupelloser Macho (Valentin Juteau). Emilia, seine Ehefrau und Desdemonas Vertraute, verzweifelt an ihren Schuldgefühlen und der Trauer. Die überaus anmutige Nora Brown tanzt sie im anrührendsten Solo des halbstündigen Balletts.
Fast ein bisschen zu ähnlich in den Kostümen sieht Kevin O'Days Beziehungs-Stück zum Auftakt dem Finale von Marco Goecke. Allerdings schickt er nur vier Akteure auf die Bühne. Dass hier Bridget Breiner selbst mit Ayako Kikuchi, Hugo Mercier und Junior Demitre tanzt, ist eine freudige Überraschung. Den vorzüglich stimmigen Tanz von O'Days sehr geschmeidiger und enorm athletischer Choreografie unterstreicht die grandiose Musik, Dark Full Ride der Amerikanerin Julia Wolfe für vier Drum-Sets, unterbrochen von Klaviermusik des Minimalisten John Adams - eine Traumvorgabe für die rhythmisch gepolten Körper von Tänzern.
Mindestens 99 Luftballons türmen sich für Goeckes köstlichen Rausschmeißer Sweet, Sweet, Sweet auf der kleinen Bühne. Auch wenn sie nicht so fröhlich kunterbunt wie in Nenas Song sind, triumphiert die Leichtigkeit über das düstere Ambiente. Zwei eng umschlungene Männer wühlen sich, selbstvergessen im innigen Kuss, durch die schwarzschimmernde Wabbelmasse. Dann taucht mal hier, mal dort einer oder eine aus den Kulissen auf und im Gummimeer unter oder streckt sich hoch, schüttelt Wuschelkopf und Glieder wie ein kladdernasser Köter. Paare walzen, andere rennen, hechten oder heben mal eben ab - wie am Schluss die Ballons, die ins Publikum schweben und die ersten Reihen förmlich überfluten. Schon während des Aufbaus konnte man im Pausenfoyer immer wieder mal dieses wohlbekannte „Plopp!" eines platzenden Ballons hören. So ging's auch weiter. Dazu gab's als weitere Geräuschkulisse hie und da ein Rascheln, Quieken, Seufzen oder einen Aufschrei und eine umwerfende Nonsens-Litanei.
Dieser neue Abend des Ballett im Revier beeindruckt durch die tänzerische wie choreografische Qualität, vor allem aber durch die Homogenität der erst seit wenigen Monaten in dieser Formation zusammen arbeitenden Kompanie.