Übrigens …

Der letzte Schrei - 4. Edition im Generatorenhalle Viersen

Menschliche Körper als Subjekt und Objekt

Pep Guardiola und Wolfgang Amadeus Mozart waren auch da. Ihre Namen sollten die Zuschauer auf die Eintrittskarte schreiben; einige Mitmenschen waren da sehr erfinderisch, andere so phantasielos wie der Rezensent: Sie schrieben einfach ihren wahren Namen aufs Papier. An der Einlasskontrolle steht jedenfalls eine der Tänzerinnen von Ben J. Riepes Kompanie und ruft die Namen der Eintretenden auf, so wie sie später die einzelnen Tänzer vorstellen wird: unter enervierendem Lachen, laut und schrill. Schrill ist auch ihr grünmelierter Hosenanzug. Schließlich soll es auch um Mode gehen in dieser Performance, die ja Der letzte Schrei heißt - le dernier cri. Der Gedanke an Mode wäre dem Unterzeichner ehrlicherweise nicht gekommen. Die andere Bedeutung von „Dernier Cri“ liegt schon eher auf der Hand: der letzte Schrei des Menschen vor dem Exitus.

Ben J. Riepe firmiert unter Tanz, obwohl er von sich selbst sagt, dass seine Arbeiten mit dem Medium Tanz eigentlich nichts zu tun haben. Die von ihm entworfenen Performances sind in ungewöhnlichem Maße genreübergreifend und bewegen sich auf der Grenze zwischen Musiktheater und Konzert, Bildender Kunst und Live Installation von Klang- und Objekt-Skulpturen. Live gibt es nicht nur echte Menschen zu bewundern, sondern oft auch Tiere aller Art. Riepes Arbeiten verändern sich von Aufführung zu Aufführung und werden der jeweiligen Spielstätte angepasst. In der Generatorenhalle Viersen, einem architektonischen Juwel des Jugendstils inmitten des Stadtzentrums,  sehen wir, wie Riepe sagt, die „Museumsversion“ der Performance. Anders als bei der Uraufführung im CENTRAL des Düsseldorfer Schauspielhauses oder bei der vorherigen Aufführung im Essener PACT Zollverein hat das Auditorium keine festen Plätze; der Zuschauer kann sich frei bewegen wie in einer Ausstellungshalle, und es gibt keine Bestuhlung.

Keine Bestuhlung, aber unzählige Stühle. Die stehen und liegen zu Beginn in chaotischer Anordnung in der Halle herum - man könnte es ein romantisches Chaos nennen, wäre das Bild nicht gleichzeitig eine Metapher für Zweckentfremdung und Zerstörung. Und würde sich Riepes jüngste Arbeit nicht wie fast alle ihrer Vorläufer nicht durch Chaos, sondern durch eine ungeheure Präzision des Zusammenspiels aus Performance, Bühnenbild und Musik auszeichnen. Immer wieder werden die Stühle im Verlauf des 90minütigen Abends bewegt und neu angeordnet. Irgendwann einmal werden sie wie an einem Flaschenzug in Richtung Hallendecke hochgezogen; der Raum wird dazu vollkommen vernebelt, magisches gelbes Licht durchdringt die dichten Schwaden nur unzureichend. Draußen wird es zu diesem Zeitpunkt langsam dunkler, und schließlich werden die schwarzen Jalousien heruntergelassen, so dass ab nun nur künstliches Licht herrscht. Vergeblichkeit und Verfall symbolisiert ein wunderschönes Bild, zu welchem die apathischen Tänzer einzeln, weit von einander entfernt auf die im Saal verteilten Stühle drapiert werden - von fern weht eine Erinnerung an die wehmütigen Szenen aus Ettore Scolas „Le Bal“ heran.  Am Schluss werden die Stühle zu einer endlos langen, mehrstöckigen Mauer zusammengesetzt, die den langen Raum in der Mitte hermetisch verschließt. Die offene, romantisch chaotische Anordnung hat sich in ein Abwehrbollwerk verwandelt. Halbnackte Tänzer und Tänzerinnen werden in das Stuhlgebirge geschleppt: Offenbar bauen die Tänzer einen riesigen Scheiterhaufen auf. Tatsächlich quillt bald dichter Nebel aus dem Stuhlberg; einer der Tänzer erhebt sich aus der Skulptur und klettert auf die prekär schwankende Mauer. Er hat Mühe, ohne Sturz davonzukommen, balanciert unsicher auf den kaum ineinander verzahnten Möbeln - nun bewegen nicht mehr die Menschen die Stühle, sondern die Stühle den Menschen, der mühsam sich bemüht, das sich selbständig zu machen drohende Konstrukt aus leblosen Objekten zu beherrschen. Und tatsächlich ist die „Subjekt-Objekt-Relation“ einer der Aspekte, die den Choreografen in dieser Arbeit besonders interessieren: Auch der menschliche Körper wird mal zum Gestalter und mal zum Objekt der Installation, mal zu „Sculpturer“ und mal zur Skulptur.

Oft werden einzelne Tänzer und Tänzerinnen von den anderen wie Puppen bewegt - oder sie bewegen sich selbst wie Figuren einer Spieluhr zur leiernden Musik. Als Objekte werden die leblos erscheinenden Körper von den handelnden, aktiven Performern durch die Halle geschleift und gemeinsam mit den Stühlen oder den wenigen anderen Objekten, die Riepe und Mithu Sen für diese Choreografie nutzen, zu neuen Bildern drapiert. Sind diese passiv benutzten Körper tot? Ist es wirklich ein Scheiterhaufen, den die Performer am Ende bauen? - „Der letzte Schrei ist oft von großer Harmonie, aber eben auch von Todessehnsucht, Wehmut und Melancholie durchzogen. Wunderbar intonieren die Performer traurige Lieder wie Goethes „Meeresstille“: „Keine Luft von keiner Seite! / Todesstille fürchterlich / In der ungeheuren Weite / Reget keine Welle sich.“ Wagner-Arien erklingen, kontemplative Choräle oder Händel-Arien. Vor allem Letztere kommunizieren perfekt mit dem kirchenschiffähnlichen Raum der Generatorenhalle mit ihrem riesigen, einem Altarraum angemessenen Bogenfenster. 

Die Mittel, mit denen Ben J. Riepe in seinen Choreografien und Installationen arbeitet, kennen wir aus früheren Performances: harmonische, oftmals kontemplative Musik, Kerzenlicht oder andere magische Lichtstimmungen, zeitlupenartige Bewegungen und Gesänge. Sogar einzelne Figuren wie die beiden in Ganzkörper-Burberry-Muster gekleideten Performer sind aus Happy Together in Riepes neueste Performance herübergewachsen. Aber immer wieder von neuem entwickeln diese Arbeiten einen unwiderstehlichen Sog und eine ungeheure Suggestivkraft. Doch Vorsicht: Riepe ist ein Meister der Harmonie - und ein Meister der Dissonanz. Immer wieder enden die schönsten, süchtig machenden Bilder und Klänge in schrillem Missklang - ob dies nun die alberne Vorstellungsorgie der grünbehosten Tänzerin ist, die nervenzerfetzend in die kontemplative Musik platzt, die im Anschluss an das wunderschöne Goethe-Lied plötzlich losschrillende Alarmsirene oder der Glockenklang, der in schrillen, ohrenbetäubenden Tönen der Sängerstimmen mündet. Der Spagat zwischen Schönheit und Schmerz gelingt auf deutschen Bühnen niemandem so perfekt und dabei in solch extremer Form wie Riepe. Meist dominiert melancholische Schönheit. Doch es ist wie im Leben: Der letzte Schrei stört die Harmonie.