Model im Salzlager Zeche Zollverein

Tanz mit Ohrenstöpseln gucken

Zum ersten Mal stellt sich der Tänzer-Choreograf Richard Siegal bei der Ruhrtriennale vor. Als Hoffnungsträger einer neuen Generation von Choreografen wird der Amerikaner gefeiert. Bis 2003 tanzte er in der Frankfurter Forsythe-Company und gründete 2005 seine innovative Tanz-Plattform The Bakery. Gerühmt wird er als einer der „denkt, bevor er den Tanzsaal betritt", gerügt allerdings mitunter seine Vorliebe für „technische Spielereien". Der Zweiteiler im Salzlager der Kokerei auf der Essener Zeche Zollverein beginnt mit Metric Dozen von 2014, gefolgt von der Uraufführung von Siegals neuem Tanzstück Model. Aber den Catwalk von Mailand, Berlin oder Paris simulieren die Tänzer, drapiert in hochelegante schwarz-bläuliche Glitzer-Outfits und vom Kopf bis zu den Füßen in ihren hellgrauen Socken schimmernd geölt, bereits in Metric Dozen mit übertriebenen Hüftschwüngen, weiten Schritten von hinten nach vorn, Bewunderung heischenden Zickzack-Posen und provozierend aufgesetzten zickig bis koketten Mienen. Ein Glanzstück zeitgenössischen Balletts ist das, zumal hier Mitglieder des Bayerischen Staatsballetts München und der Avantgarde von Siegals Bakery eine faszinierend kongeniale Allianz eingehen. Was aber würde dem hoch gestylten und mit harschen Sounds und stroboskopischen Effekten technisch hoch gepushten Auftakt im nüchternen Ambiente des Industrierelikts folgen?

Nach der Pause stehen vor dem Zugang zu der provisorischen steilen Zuschauertribüne Türsteher fast schamhaft mit Pappschachteln voller kleiner bunter Plastikteilchen im Arm. Kaum ist das Licht in der Halle verlöscht, greifen stroboskopisch blitzende Lichtkaskaden und markerschütternder elektronischer Krach Platz. In den Zuschauerreihen knistern die Verpackungen der Ohrstöpsel. Um und durch einen Kreis, der einer industriellen Maschinerie anzugehören scheint, dreht eine zierliche Tänzerin auf Spitze Pirouetten. Wie altmodische Badezimmerfenster verglaste Scheinwerfer am Spielfeldrand blenden. Dann wieder ist es düster. Kaum macht man Solisten und Gruppen in Socken oder Spitzenschuhen aus, die mit sehr ähnlicher Virtuosität tanzen, den Raum füllen, ihn akkurat unterteilen, sich gelegentlich sogar zu Paaren formieren und berühren. Aber nie erinnert ein Akteur an ein Model oder eine Sequenz an eine Modenschau. Der Mensch schlechthin als Prototyp des Lebens, Zentrum des Universums?

Banderolen mit Schlagworten und Sätzen in großen Druckbuchstaben wandern vertikal und horizontal über die Beleuchtungskörper. Von Himmel und Hölle ist die Rede, von Paradies und Inferno. Ein Säugling schmollt auf einer Abbildung daneben. Im Programmheft ist sehr ausführlich von Dantes Göttlicher Komödie die Rede. Darüber also hat Siegal nachgedacht, bevor er zu den Proben für Model in den Tanzsaal ging. Beim Zuschauer kommt wenig von den philosophischen Exkursen des Tanzmachers an.

Erinnerung wird wach an Hofesh Shechters ohrenbetäubende Soundtracks und an Anne Teresa De Keersmaekers schier endlose Zeit-ung, nur dass da das monotone, zarte Ticken des Metronoms die Nerven allzu lang strapazierte. Auch bei dieser Uraufführung ernteten am Ende der Premiere die Tänzer für ihren Powerakt mehr Applaus als der philosophierende Choreograf in Jackett und kurzen Hosen.