Übrigens …

Fleshmob mit Toten / Eine Performensch im Jack in the Box Köln-Ehrenfeld

Sie ringen in der Pfütze um ihr Leben

„Jack in the Box“ ist ein gemeinnütziger Verein für Beschäftigungsförderung. Auf dem heruntergekommenen Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Köln-Ehrenfeld stehen inmitten einer Industriebrache ein paar Seecontainer herum. In einer Werkstatt für Upcycling arbeitet der Verein nicht mehr gebrauchte Gegenstände auf und führt sie einer neuen Nutzung zu. Die Seecontainer sind ein Teil dieses Konzepts: Als mobile, temporär nutzbare und modular erweiterbare Architektur werden auch sie innovativ und originell genutzt. Zum Beispiel als stockdunkler Schiffsbauch eines Flüchtlingsschiffs. Ein äußerst raubeiniger Sklaventreiber drängte den Unterzeichner und alle anderen Besucher ins beängstigende Dunkel. Man sah die Hand vor Augen nicht, hörte aber eine auf dem Boden kriechende Flüchtlingsfrau, die um Geld oder einen - echten oder gefälschten - Pass bettelte. Draußen turnte eine Farbige auf einer Holzkonstruktion herum, machte hilflose Schwimmbewegungen und rief: „Rette mich!“. In einer Pfütze rangen Yoshiko Waki, eine der beiden Impresarios der Tanzgruppe bodytalk, und einer ihrer Tänzer um ihr Leben. Und zwar mit sichtlichem Vergnügen. Das ist schräg - aber wenn es so weiter geht, könnte die Uraufführung der ersten Kooperation von bodytalk mit der Friedensbewegung Warless Day der Aktionskünstlerin Solmaz Vakilpour eine platte Angelegenheit werden.

Es wird: genau das, was sich auf dem Parcours zu der Halle, in der die eigentliche Performance stattfinden wird, andeutete. Es wird eine kuriose, szenenweise mitreißende Melange aus Wutbürgertum, Provokationen, tiefster Verzweiflung und ausgelassener Fröhlichkeit. Also das, was schon frühere Performances von bodytalk auszeichnete. Allerdings wird es nicht platt. Diesmal stehen Solmaz Vakilpour und ihre Aktionskunst im Vordergrund. Die Aktionen der jungen Exil-Iranerin könnte man auf den ersten Blick ebenfalls als platt bezeichnen: Sie trommelt ein paar Gleichgesinnte zusammen und arrangiert nackte menschliche Körper im öffentlichen Raum, die sie dann mit (Theater-)Blut übergießt. Natürlich erinnert das an die Aktivistinnen von Femen oder an Pussy Riot - und Riot gibt‘s dann auch meistens, wie Vakilpour erläutert: Meist ruft ganz schnell jemand die Polizei, und die löst die Demo dann in Windeseile auf. Mehr als zehn Minuten habe sie selten Zeit für ihre Aktionen. Was das mit Friedensbewegung zu tun hat? Flashlightartig schoss ein unreflektierter Gedanke durchs Hirn: Welcher Spießer ruft denn heute noch die Polizei, nur weil ein paar blutüberströmte Nackte auf der Kölner Domplatte liegen?

Dieser erschreckende Gedanke ist der Clou. Wie abgebrüht sind wir eigentlich schon gegen solche Bilder, die auf den Schlachtfeldern in Syrien, in den Folterkellern des Iran oder in den Bürgerkriegs-Regionen der dritten Welt noch heute Realität sind! Manchmal stellt Vakilpour einen bewaffneten Soldaten neben ihre Verwundeten und Leichen, manchmal gruppiert sie die Körper ihrer Performer zu kunstvollen menschlichen Skulpturen - aber am eindrucksvollsten erscheinen dem Rezensenten die schockierenden Bilder der auf dem Pflaster liegenden, blutüberströmten Menschen. Der begleitende Aktionismus erscheint da eher überflüssig - das ganze Geschrei und Bohai, das sich darum herum abspielt, gibt der Aktion etwas von einem Happening. Das gilt auch für die entsprechende Aktion, die Vakilpour in bodytalks Inszenierung von Fleshmob mit Toten an zentraler Stelle einbaut. Überraschenderweise ist am Premierenabend mehr als die Hälfte der Zuschauer bereit, sich auf der Bühne an der Aktion zu beteiligen - und eine Handvoll davon zieht sich sogar aus. „Nacktose-Intoleranz“, wie die Performer es nennen, hat hier keiner. Doch ein bisschen wirkt das Ganze ausgestellt, und wenn alle angezogen Bleibenden unsicher im Bühnenhintergrund mit den Füßen stampfen und Parolen wie „No more wars“ murmeln, fragt man sich doch wieder, ob das die angemessene Weise eines Protests ist.

Einerlei: Zu bodytalk passt es. Denn die schaffen es immer wieder auf atemberaubende Art und Weise, Stimmungen kippen zu lassen und mit politischen Inkorrektheiten zu spielen. Die Fallhöhen sind enorm: Sylvana Seddig, eine der herausragenden Tänzerinnen der Truppe, begibt sich auf den Catwalk und tänzelt über die Bühne, als wäre das hübsche Mädchen einem Alptraum von Francis Bacon entsprungen: Da tanzt eine Schwerstbehinderte, eine Kriegsversehrte, wie man sie sich schlimmer kaum denken kann. Und ruft dem Zuschauer fröhlich zu: „Ich bin eine Friedensbewegung!“ Na sowas: Ganz subtil und für Sekundenbruchteile nur hat da eine der Performerinnen die ambivalenten Gefühle des Rezensenten im Hinblick auf Vakilpours Aktionskunst aufgegriffen und jeder Kritik den Wind aus den Segeln genommen. - Auch das Bild von Yoshiko aus der Pfütze wird wieder aufgegriffen: Die Tänzer sitzen in Autoreifen, die ein jeder sofort als Rettungsringe begreift, und klammern sich fest, um zu überleben; Geräusche eines Fliegerangriffs, wütende Texte dazu treffen den Zuschauer ins Innerste - doch die Flucht nach Deutschland gelingt, und das Wortkonzert endet beim Grenzübergang im Jubel: „Ich bin Deutscher, ich bin Weltmeister.“ Choreographien flüchtender Menschen in den Rettungsringen kippen von Bildern der Angst in Bilder von großer Ästhetik; bodytalks Tänzerinnen spielen den drohenden Untergang wie die gut gebauten, aber ein wenig lächerlichen Synchronschwimmer bei den Olympischen Spielen. Und sie lachen dabei. Schließlich haben sie Spaß an der Ausübung ihres Jobs! In hohem Erzähltempo, unter offenbar ungeheurem Druck berichtet Solmaz von der Verfolgung im Iran, von psychischen und physischen Misshandlungen auch innerhalb ihrer Familie. Als Zuschauer ist man geneigt, sein Mobile Phone zu zücken und Solmaz sofort die Nummer einer Therapeutin zuzustecken - aber da reagiert schon die bodytalk-Moderatorin mit einem lakonischen: „Au weia“. - „Ich bin ja nur Performensch“, sagt sie achselzuckend. Nach dem blutigen nackten Leichen- und Kriegsverletzten-Getümmel nehmen die Performenschen lustvoll und für deutsche Bühnen ungewöhnlich explizit sexuellen Kontakt auf. Hurrah, wir leben noch - es ist ja alles nur gefaket.

Die Performance von bodytalk und Warless Days ist von größter Radikalität - und von unendlicher Fröhlichkeit, mit der die radikalen Situationen immer wieder aufgelöst werden. Bilder von großer Brutalität wechseln ab mit Folklore-Rock, Blut- und Todesmetaphern mit pastellfarbenen Zelten und Kostümen, Einfühlsames mit Ekelhaftem. Die Performer, die übrigens ihre großartigen tänzerischen Qualitäten bis zur völligen Verausgabung unter Beweis stellen, machen eindrucksvoll auf ihr im wahrsten Sinne des Wortes todernstes Anliegen aufmerksam und feiern gleichzeitig eine große Party. Immer wieder weisen sie auf die Spielsituation hin, in der sie und wir uns befinden. Aber kaum drehen sie einmal an der Stimmungs-Schraube, geben wir unsere Distanz auf. Emotional durchgeschüttelt, werden wir unablässig von einem Gemütszustand in den nächsten getrieben. Das ist verwirrend - und macht es schwer, die einzelnen, von ihren Theatermitteln und ihrer Performance-Qualität durchaus heterogenen Teile des Abends zu beurteilen. Aber auch wir kriegen ja unser Fett ab. Was tun wir eigentlich gegen den Krieg?, fragen uns die Performer. Was tun wir mit unserer eigenen, fraglos komfortablen Lebenssituation? - „Online jammern“, sagt die Flüchtlings-Dame, die am Anfang von der Holzkonstruktion gerettet werden wollte.

Macht der Schreiber dieser Zeilen aber nicht. Er applaudiert online.