Der Mut so groß und die Sehnsucht unerfüllt
Vierzehn, fünfzehn Jahre alt war der Schreiber dieser Zeilen, als er Rainer Maria Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke zum ersten Mal las. Die knapp zehn Seiten lange Erzählung war Teil einer Anthologie von Kurzgeschichten deutscher Erzähler aus dem 20. Jahrhundert, das damals gerade einmal zwei Drittel seines Weges durch die Zeitgeschichte zurückgelegt hatte. Manche der darin enthaltenen Werke überforderten den Vierzehnjährigen noch, manche langweilten ihn, aber vom Cornet war ich damals zutiefst berührt. Die in geschickt arrangierten lyrischen Girlanden gewebte Geschichte über die Sehnsucht nach Liebe, Bedeutung und einem – ehrlich gesagt, ziemlich sinnlosen – Heldentod fanden im Jahre 1968 ebenso wie zur Entstehungszeit der Geschichte 1906 beziehungsweise bei der Veröffentlichung als 1. Band der Insel-Bücherei im Jahre 1912 Widerhall in der schwärmerischen Seele eines pubertierenden Jugendlichen. Fast fünfzig Jahre später ist man beim Wiederlesen des Texts ein wenig irritiert angesichts der Erinnerung an die damalige Begeisterung. Fast ist einem der damalige Enthusiasmus ein wenig peinlich. Und dann denkt man: Ja, warum eigentlich nicht…?
Der Anfangssatz der Erzählung (folgend auf eine der Geschichte vorangestellte Wiedergabe des Inhalts einer alten Urkunde) ist, wenn auch befreit von seinem Sinngehalt, in den Zitatenschatz vieler Bildungsbürger eingegangen: „Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag …“. Doch es ist der zweite Satz, der den Melancholiker und den Schwärmer gleichermaßen ins Herz trifft: „Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß.“ Der Cornet reitet dem Krieg entgegen, der Schlacht gegen die Türken bei Mogersdorf in Ungarn im Jahre 1664. Die Landschaft ist karg, die Auszehrung der Leiber und Seelen groß, die Sehnsucht auch. Letztere stillt der Cornet in einer Liebesnacht mit einer Gräfin, in der es zu einem fatalen coitus interruptus kommt: Während sich die zwei im abgelegenen Turmzimmer vergnügen, stecken die Türken das Schloss in Brand. Der heroisch gesinnte Cornet versucht, die Fahne seiner Einheit zu retten und reitet allein und ohne jeglichen Schutz quer durch die feindlichen Truppen seinen längst aufgebrochenen Waffenbrüdern hinterher. Und die Fahne flattert ihm voran... - Dass das nicht gut geht, bedarf keiner Erwähnung, dass der gute Christoph aber vermutlich seinen Heldentod im Zuge der Freisetzung von jeder Menge Adrenalin und Glückshormonen starb, legt die dem Text immanente Charakterisierung des jungen Schwärmers nahe. Nur Mama weint am Ende, und der eine oder andere Leser vielleicht auch.
Doch frei von jeder Ironie ist zu konstatieren, dass der meisterhafte lyrische Prosatext zwangsläufig über kurz oder lang auch seine Meisterin im Bereich des Choreografischen Theaters finden musste. Denn der Text ist wie die Schilderung des Fests bei der Rast im Schloss: „Die hohen Flammen flackten … wirre Lieder klirrten aus Glas und Glanz, und endlich aus den reifgewordenen Takten: entsprang der Tanz.“ Anne Teresa De Keersmaeker war es vorbehalten, sich von Rilkes Text zu einer neuen Kreation inspirieren zu lassen. Aber sie lässt weder die Flammen flackern noch gibt sie den Liedern Glanz: Lange, sehr lange lässt sie uns den Text lesen, ohne dass auf der Bühne etwas geschieht, dann erscheint der Tänzer Michaël Pomero und schreibt stumm und ohne Musikbegleitung ein paar Eiskunstlauf-Kringel in den staubigen Bühnenboden. Chryssi Dimitriou spielt vorübergehend auf der Querflöte Auszüge aus Salvatore Sciarrinos Opera per flauto - Immagine fenicia und All’aure in una lontananza - das ist von großer Virtuosität, insbesondere weil sie der Querflöte kaum irgendwelche Flötentöne entlockt, sondern eher eine Mischung aus Schlagzeugklängen und indianischer Blasmusik. De Keersmaeker selbst tanzt dann ein Duett mit Pomero, mal synchron, mal als Spiegelung, und mal scheinen sich beide aus dem Weg zu gehen, während Dimitriou dazu ein wenig Wind zu entfachen scheint. Zu guter, langer Letzt spricht De Keersmaeker den gesamten Rilke-Text, vom ersten bis zum letzten Wort. Sie dreht ihre Kreise ohne jede musikalische Untermalung, exakt choreografiert, in abgezirkelten Bewegungen und mit einer Intonation, die die Lyrik und das Schwärmerische des Textes ignoriert. Man mag den Klang der Rilke-Worte poetisch oder kitschig finden - bei De Keersmaeker kommt weder das eine noch das andere zur Geltung. Dafür - und das mag man als gesellschaftspolitisch zeitgemäße Umsetzung des Textes betrachten - zitiert De Keersmaeker militaristische und autoritäre Gesten, Sprachmelodien und Strukturen. Die bewundernswerte Flötistin ist zu dieser Zeit längst verschwunden.
Rilke hat einen Fließtext voller Reime und Stabreime, voller Musikalität und Rhythmus geschrieben, der geradezu nach einer choreographischen Umsetzung schreit. Wenn man ihn vorbehaltlos liest und sich befreit von den Störgefühlen angesichts der Sehnsucht nach dem Heldentod, wenn man dem Sog seiner Melodie zu folgen bereit ist, dann vermag er den emotional empfänglichen Leser auch heute noch mitzureißen. Man kann De Keersmaeker zugute halten, dass sie uns diesen Text auf vollkommen neue Art erschließt. Doch so wie die Choreografin den Text spricht und tanzt, wird aus Emotion Mathematik, aus den Höhenflügen der Seele Geometrie und aus sprachlicher Kreativität Formalismus. Das ist überraschend bei einer Choreografin, die uns in den vergangenen Jahren mit so kontemplativen Kreationen wie Cesena, En Atendant oder Vortex Temporum durch den Abend oder in den Sonnenaufgang begleitet hat. Ihr Mut war groß, eine vollkommen neue Interpretation zu wagen, doch die Sehnsucht nach dem ursprünglichen Klang der Rilke-Worte blieb unerfüllt.