Neue Stücke
Es war eine der denkbar schwierigsten und gleichzeitig ehrenvollsten Aufgaben für die Gäste des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch. Erstmals seit dem plötzlichen Tod der legendären Prinzipalin im Juni 2009 eröffnete die Kompanie ihre Spielzeit mit neuen Stücken von hierzulande weitgehend noch unbekannten Choreografen. Bislang hatte man sich mit Stücken aus dem umfangreichen Bausch-Repertoire auf den traditionellen ausgedehnten Tourneen in alle Welt und bei den vertraglich vereinbarten, stets ausverkauften Auftritten in Wuppertal konzentriert, wobei auch viel Trauerarbeit diesseits und jenseits der Rampe zu leisten war. Nun schienen Alle bereit für Neues und genossen den dreiteiligen, dreistündigen Abend offensichtlich.
Den größten Unterhaltungswert bot The Lighters Dancehall Polyphony (ein Titel wie für eine Doktorarbeit) des Teams Cecilia Bengolea und François Chaignaud, das sich vor einem Jahr dem deutschen Publikum im tanzhaus-nrw mit Dub Love eindrucksvoll vorgestellt hat. Auch dafür, wie jetzt, verwendeten die argentinische Choreografin und ihr französischer Partner jamaikanische Dancehall-Musik und Reggae, ergänzt diesmal durch englische Renaissance-Madrigale, John Madaras 1960er Jahre Song „You don't own me“, Rap von der Engländerin Kate Tempest und klassische Rezitation. Diese „Welt-Klänge“ werden optisch konterkariert von einem fantasiereichen Mix aus schimmernden, uni-farbenen Ganzkörpertrikots, Theaterkostümen der Shakespeare-Zeit und Folklore wie buntem Baströckchen oder Blumenkleidchen in satten Urwald-Farbtönen. Auch tanztechnisch ist der Variations- und Ausdrucksreichtum schier überbordend. Verwendeten die Choreografin und der tanzende Musikfreak (Spezialgebiet: musikalische Polyphonien) früher schon mal gern Spitzentanz, so räumen sie hier dem deutschen Ausdruckstanz Raum ein. Vor allem ein langes Solo von Andrey Berezin erinnert in ausladend pathetischen Gesten an Harald Kreutzberg und lange Gruppenszenen (mit Reigen und Recken in die Höhe) rufen Bilder von Mary Wigmans „Frauentänzen“ und ihren getanzten Laien-Chören wach. Eine ganz neue Nayoung Kim präsentiert sich, hautfarben verpackt, als glänzende Akrobatin. Scott Jennings profiliert sich diabolisch als dritter in diesem Bunde der Solisten. Theatralische Aufmärsche mit Kerzen folgen, begleitet von Madrigalen, die die von Stimmbilder Roman Babik trainierten Tänzer meist überraschend rein intonieren. Schließlich öffnet sich wie eine Flügeltür die hohe, breite, metallisch schimmernde Wand, die Vorder- oder Hinterbühne trennte. Zu einem Kanon, einem Frauen-Sologesang und einer gesummten russischen Volksmelodie endet das bunte Treiben fast wie ein großes Zirkusfest.
Dieses globale Tanztheater dauert nur 40 Minuten, ist aber so prall gefüllt mit Impressionen und Klängen, dass man eigentlich schon satt wäre. Umrahmt wird dieses Herzstück des Abends von Theo Clinkards somewhat still when seen from above und Tim Etchells' In Terms of Time. Ersteres spielt auf die Perspektive an, aus der der Geiger Christopher Huber das Geschehen verfolgen könnte: aus einer Seitenloge im 2. Rang - ähnlich wie der Opernchor, den Bausch in Orpheus vor über 40 Jahren durchaus provozierend dorthin verbannte. Auch die Bühnenarbeiter sehen den Tanz von hoch oben auf Leitern, von wo sie Nebel versprühen. Voller Temperament und Lebensfreude sind Soli etwa von Pablo Aran Gimeno, hinreißend die ruckelnden, getanzten Synkopen des Hits „Green Onions“ (Julie Anne Stanzak lächelt beseelt) und die fast diagonale Kuschelreihe, in der jeder den Kopf auf die Schulter des Vorderen legt. Der englische Choreograf und Tanzpädagoge kennt diese Truppe bestens, hat er doch mehrfach im Training mit ihnen gearbeitet.
Den Bausch Revuen am ähnlichsten ist Tim Etchells' Performance. Da balancieren die Tänzer kreischend Plastikbecher-Stapel, die umstürzend auf dem Boden zerbrechen und ihn wie eine glitzernde Wasserfläche bedecken. Vorher fangen sie Luft in blauen Müllsäcken ein und stapeln sie zum Berg. Immer wieder ist das Mikrofon zur Hand. Es wird gelacht, geflirtet, schikaniert. Nazareth Panadero bringt ihre schrille Stimme auf Hochtouren. Julie Shanahan spielt, einen roten Feuerlöscher unterm Arm, mit einem Feuerzeug. Regina Advento bestreut Arme und Beine mit Puderzucker und schleckt sich dann ab. Man versammelt sich zum Familienfest um eine lange Tafel, spricht zärtlich, flüstert, kreischt wütend von Liebe. Schließlich reihen sich alle an der Rampe auf und sagen in allen Tonlagen und Attituden ein vielfaches „thank you!“ (an Pina?)
Alle Choreografen zeichnen ein buntes, vielschichtiges Welt-Mosaik, wie es - seit Pina Bausch es, tiefgründiger freilich und in die hohe Ästhetik von Marion Citos Roben und Peter Pabsts Rauminstallationen verpackt, für den Tanz „erfand“ - so charakteristisch für den zeitgenössischen Tanz geworden ist. Eine neue, aber nicht fremde Welt tummelt sich auf der Wuppertaler Bühne. Das Werk Pina Bauschs wird immer Zentrum des Repertoires bleiben, aber nun auch allmählich von anderen Kompanien, wie dem Bayerischen Staatsballett München, einstudiert und durch Werke jüngerer Choreografen ergänzt werden. Die gerade beginnende Saison verspricht einen guten Neubeginn für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.