Übrigens …

Geschichten, die ich nie erzählte im Bielefeld, Stadttheater

Balsam für die Seele

Paradigmenwechsel in Bielefeld: Gregor Zölligs eher kopflastigem, wenngleich äußerst populärem Tanztheater folgt „TANZ Bielefeld“ von Simone Sandroni. Und tanzen lässt der Italiener in der Tat in allen Varianten von Klassik bis Hip-Hop. Tempo und Bewegungsvielfalt der kleinen Truppe sind atemberaubend - zumal wenn Kenan Dinkelmann die Ballettstange auf Schwung bringt und in rasantem Tempo auf der Spielfläche kreiseln lässt. Blitzschnell und behende schlüpfen, kullern und rollen die anderen in letzter Sekunde drunter durch.

Die Schwedin Johanna Wernmo betritt zu Beginn die Bühne als Erste - barfuß, in Top und Hotpants -, gibt sich schüchtern und verrät dann aber doch aus ihren Lebensgeschichten, dass sie nicht aufhören könne zu tanzen. Sie wirbelt durch den Raum, dass man ihr das Geständnis glatt abnimmt. Andere erzählen von weniger schönen ersten Tanzerfahrungen - Saori Ando etwa vom Ritus traditionellen japanischen Tanzes. Joris Bergmans erinnert schmerzhaft und demütigend das Einpeitschen klassischer Posen. Tommaso Balbo profilierte sich als Teenager bei der Tarantella, durfte aber nur als Pinocchio auf der Bühne debütieren.

Später hauchen alle - manche schwer zu verstehen - geplatzte Lebensträume ins Mikrofon. Noriko Nishidate wurde keine Prinzessin, die Costa Ricanerin Elvira Zuñiga Porras nicht Tierärztin, der elegante Japaner Sho Takayama kein Verkäufer, die schöne Italienerin Chiara Montalbani keine Psychologin. Ihr Landsmann Gianni Cuccaro „wäre nie Tänzer geworden, wenn es keine Duette gäbe“.

Da darf er sich in diesen 75 Minuten weidlich austoben. Denn alle vier großen Szenen der lockeren Choreografie haben auch reizvolle Zweierformationen - diagonal über die Bühne gehüpft, skurril miteinander verschlungen, Annäherungsversuche von ihm an sie - und vor allem einen herrlich langen Tango für eng umschlungene Paare.

Mitten hinein senkt sich ein Mikrofon vom Schnürboden, aber als Noriko Nishidate es greifen will, entpuppt es sich als Schlauch, der die Bühne unter Wasser setzt und alle kladdernass macht. Es folgt die köstlichste, raffinierteste Wasserrutschpartie in Badehosen, die wohl je auf einer deutschen Bühne zu sehen war. Im langen gesprochenen Epilog dann verrieten die Tänzer aus sechs Nationen noch, die Bühne sei ihre Heimat. So wahr es sicher für jeden Bühnenkünstler ist - das klang denn doch hier und heute reichlich plakativ.

Aber der Funke sprang sofort von der Bühne aufs Parkett über. Anlässlich dieser ersten Tanzpremiere werden die Zuschauer beim Einlass gebeten, den Satz zu vervollständigen „Tanz ist für mich...“. Dutzende Bekenntnisse sind bereits an Pinnwänden im Foyer ausgestellt. Da wird Tanz definiert als „Balsam für die Seele“ oder „Lebensfreude pur“, als „Faszination bewegter Bilder“, „Harmonie und Dynamik“ und „dank der heutigen Vielfalt von Techniken und Themen die spannendste, schönste der Künste“. All das findet sich auf der Bühne wieder, wenn die fünf Tänzerinnen und fünf Tänzer sich mit Sandronis Geschichten, die ich nie erzählte vorstellen. Ein Anfang, dem mit seiner tänzerischen Frische in der Tat ein Zauber inne wohnt.