Übrigens …

Alice in Wonderland im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Alice zwischen Hutmacher und Herzkönigin

Wenige Tage vor der Premiere seines neuen Balletts nach dem Kinderbuch-Klassiker „Alice in Wonderland“ von Lewis Carroll besuchte Choreograf Luiz Fernando Bongiovanni das Bergbau-Museum in der Nachbarstadt Bochum. Er war sehr beeindruckt - schließlich war es sein erstes Erlebnis „unter Tage“. Und wie die Gänge in Streben und Flözen durch die Revier-Unterwelt labyrinthisch verlaufen, so lässt der Gast aus Brasilien (nicht zum ersten Mal am MiR) das Mädchen Alice auf der komplizierten und zuweilen wirren Suche nach dem eigenen Weg zum Erwachsenwerden durch Irrgänge wandern, taumeln, erkunden – überall Türen, überall Überraschungen, überall neue Begegnungen, überall „Wunder“ in einem fremden Land…

Die Parallelen zwischen Museums-Bergwerk und MiR-Bühne (im umgekrempelten Kleinen Haus) sind erstaunlich dicht. Dazu trägt auch die szenische Arbeit von Britta Tönne (Bühne) und Ines Alda (Kostüme) bei: Ein Ort wird verfremdet, wird theatralisch gespiegelt, wird als absurd-groteske Welt ein Bilderbuch der Suche und der neuen Identität. Das Vertraute wird kühn verzaubert. Das ist erstaunlich und eindringlich gelungen. Jeder Besucher, jede Besucherin kann sich selbst im „Wonderland“ der Disney-Filme wiederfinden. Mit Carroll wird eine Fantasy-Reise mit ernstem Hintergrund angetreten. Denn das begreift man bei diesem Ballett sehr schnell: „Alice in Wonderland“ ist keine Trauminsel des Juxes und der Komik, sondern hier herrschen Gesetze der Abenteuerfantasie - und die sind wahrhaftig oft sehr ernst, sogar brutal und machen meist nachdenklich. Die Jungen und die Alten.

Was Bongiovanni gelingt, ist eine permanente, rastlose Dauerrasanz. Alice kann auf ihrer Wunder-Wander-Tour durch traumatische Stationen - mit dem Weißen Kaninchen, mit der überdrehten Hutmacher, mit der Grinsekatze oder der Bösen Königin usw. - kaum Atem holen, so wird sie von Bildern und Figuren, Pointen und Fragen überrannt. Das wirkt manchmal gekünstelt, übertrieben. Die federleicht wirkende, zierliche Francesca Berruto tanzt diese zunächst noch orientierungslose Alice mit dem fragenden Blick des Kindes, das innerhalb des Abends altert - sie nimmt später das Geschehen ganz anders und bewusster wahr. Ob es dunkle, düstere oder heitere, positive Gestalten sind, diese Alice reift angesichts der vielen auf sie einstürzenden Eindrücke. Das Ganze ein (Alb-)Traum? Oder nur eine alternative Tea-Party?

Valentin Juteau als Kaninchen, Junior Demitre als Vater, Ayako Kikuchi als Mutter, Bridget Breiner (Direktorin der Gelsenkirchener Ballett-Company) als Schock-Königin im blutgetränkten Kleid, Ledian Soto als Raupe, Louiz Rodrigues als Hutmacher u.a.: Sie alle (und die übrigen Mitglieder des Tanzensembles) bewegen sich mal auf Spitze, mal im wirbligen Poesie-Album des Neoklassizismus mit höchster Vitalität und Konzentration. Sie alle bewegen sich in diesem Fantasy-Chaos, als suchten sie ebenfalls nach ihren subjektiven, individuellen Facetten - körperlich und seelisch. Die mehrschichtige Musikcollage von Eduardo Contrera grundiert geschickt das ganze magische Theater.

Es gab großen Beifall für einen neckisch-absurden Spuk im Gelsenkirchener „Wonderland“ des Tanzes. Bridget Breiner hat diese Erfolgsgeschichte seit drei Jahren möglich gemacht. Sie setzt, auch mit entsprechenden Gästen, ihren olympischen Parcours fort.