Übrigens …

Gefangen im Theater Münster

Zwischen Brutalität und Leichtigkeit des Seins

Unbekümmert betritt der junge Wanderer (Jason Franklin) den fremden Raum, der nach hinten von einer Reihe hässlicher, dunkelgrauer Metallkabinen begrenzt wird. Der Naturbursche in kurzen Hosen legt den Rucksack ab, aalt sich auf einem winzigen (Kunst-)Rasenstück, das er wie eine Picknickdecke ausbreitet. Ein harmloser Springinsfeld mit nackten Beinen und Füßen ist das, der unversehens von der Sonnenseite des Lebens in tiefe Finsternis gerät. Dunkles Grollen und leichte Akkordeonklänge deuten den Kontrast an. Wie von Geisterhand bewegt, weichen die unansehnlichen Container auseinander, vermehren sich auf zehn und erweisen sich als Zöglingszellen einer Erziehungsanstalt. Wie giftige Insekten staksen zwei Erzieher (Agnès Girard, Valentin Braun) herein, dirigieren und malträtieren die Gruppe der Zöglinge in schwarzem Turnzeug. Der Wanderer wird überwältigt und in eine der Zellen gesperrt.

Die Gruppe demonstriert Gefängnisalltag mit einem Eimer, der für aller Notdurft mitten im Raum steht und auch für allerlei widerwärtige Schikanen missbraucht wird. Immer wieder klatschen die Hände auf die nackten Gliedmaßen, verzerrt sich die Mine zu lautlosem Schrei.

Dann zeigt sich die Welt wieder hell und heiter: auf einer grünen Wiese tanzt und turtelt ein Paar (Priscilla Fiuzza, Alessio Sanna). Ein Verführer (Adam Dembczynski) macht dem jungen Mann Avancen. Von Natur und Intimität wechselt die Szene in eine Stadt, wo alle hasten, ohne nach rechts oder links zu sehen. Frivole Lebenslust verströmt eine kleine Gruppe in Partykleidern, die sich im Tanzcafé amüsiert. Auch hier lauert die Gefahr des Abgleitens, Verlorengehens.

Schnell umzingelt die Phalanx der Zellen die Menschen wieder. Eine zum Tode verurteilte Frau (Maria Bayarri Pérez) wird von einem Richter in schrillem Ornat und Gehabe (Agnès Girard) verhöhnt und erhängt sich in den Sprossen einer Strickleiter. Das Volk - nun wieder wie zu Beginn Zöglinge der Erziehungsanstalt - entschwindet in Nebelschwaden. Holocaust-Assoziationen drängen sich auf, während Marko Kassl mit einem verfremdeten Arrangement von Bachs 1. Partita für Solovioline einen letzten Totentanz über die Tasten seines Akkordeons jagt.

Hans Henning Paars Choreografie ist sehr viel aufwendiger und rätselhafter als vor vielen Jahren Bernd Schindowskis Tanzstück Das kriminelle Kind in Gelsenkirchen, in dem anstelle von Musik Jean Genets grausame Erzählung rezitiert wurde und der Tanz um das Abdriften aus einem normalen Leben in die Kriminalität durch Vernachlässigung eines Kindes kreiste. Bei Paar dagegen wird nicht deutlich, was diese „Gefangenen“ verbrochen haben. Sie sehen alle so nett aus, geben sich so normal. Unklar bleibt auch, wie der angekündigte „Lebensweg“ des jungen Wanderers („Lui“) weiter geht. Wieso geriet er überhaupt in die Anstalt? In dem Wirrwarr von quälenden und leichten Szenen verliert sich seine Spur. So bleibt Gefangen ein reichlich nebulöses Stück über Licht und Schatten im menschlichen Leben, über Zwänge, Ängste und Hoffnungen.

Beeindruckend an dem neuen münsterschen Tanzabend ist das brillante Akkordeonspiel von Marko Kassl zwischen düster grollenden elektronischen Klangeinspielungen. Die Tänzer zeigen in kurzen oder auch längeren Passagen ihr erstaunliches Können unterschiedlichster zeitgenössischer Techniken mit gewagten artistischen Elementen - vorzüglich insbesondere Ako Nakanome als „leichtes Mädchen“ im zitronengelben Kleidchen im Stil der Zwanziger Jahre, Thanh Pham als gequälter Gefangener, die auch schauspielerisch sehr ausdrucksvolle Maria Bayarri Pérez und die vielseitige, sehr zarte Agnès Girard.